Mate­ri­al

Deutsch­land 2009, 166 min, deut­sche Originalfassung

(mit einer kur­zen Pau­se nach den ers­ten 100 min.)

Regie: Tho­mas Heise 

„Es beginnt mit dem Lachen der Kin­der in einer Rui­nen­land­schaft der frü­hen neun­zi­ger Jah­re mit­ten in Hal­le an der Saa­le. Eine übrig geblie­be­ne Ein­stel­lung aus einem Film.

MATE­RI­AL besteht aus sol­chen Bil­dern der letz­ten zwan­zig Jah­re. Ein Teil davon sind Bil­der, die ich selbst gedreht habe: 1988, wäh­rend Fritz Mar­quardts Insze­nie­rung von Hei­ner Mül­lers „Ger­ma­nia Tod in Ber­lin“. Inter­es­siert haben mich damals nicht Sze­nen auf der Büh­ne. Inter­es­siert hat mich die Wirk­lich­keit, das Dazwi­schen, die Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Büh­nen­bild­ner und Regis­seur vor dem Modell, um das Ver­hält­nis zwi­schen Zuschau­er und Büh­ne, zwi­schen oben und unten. Inter­es­siert hat mich die Quä­le­rei und die Ernsthaftigkeit.

Dann demons­trier­te eine Mil­li­on Men­schen in Ber­lin auf dem Alex­an­der­platz. Ich hat­te mich mit einem Trans­pa­rent ans Red­ner­pult gebun­den und gedreht. Die Gesich­ter des Volks. Und die ner­vö­sen Gesich­ter der Kame­ra­leu­te des Fern­se­hens und der Foto­gra­fen auf den Podes­ten über der Men­ge, die zit­tern­den Hän­de der Red­ner vor mir. Vier Tage spä­ter sah ich die Demons­tra­ti­on der Basis der Ein­heits­par­tei vor ihrer Füh­rung, die sich einen Tag spä­ter mit der Öff­nung der Mau­er auch vor ihrem sofor­ti­gen Ver­jagt­wer­den ret­te­te. Beob­ach­tun­gen, Sze­nen, Frag­men­te, Geschich­ten und Vor­gän­ge, Notizen.

Wenig spä­ter im Dezem­ber stan­den eines Nachts erst Wär­ter dann Gefan­ge­ne, zu Spre­chern gewähl­te Lang­strafer der Straf­voll­zugs­ein­rich­tung Bran­den­burg vor der Kame­ra und jeder sag­te, was ihm jetzt wich­tig zu sagen war. Sie sahen das Drau­ßen an sich vor­bei­ge­hen. Ein Moment der Ruhe wäh­rend des Auf­stands im Gefäng­nis. Am Rand von Ber­lin gera­ten alte und neue Zeit inein­an­der, Beschul­di­gun­gen von Minis­tern und wie ehe­dem vor­ge­tra­ge­ne Mär­chen vom Club der Werk­tä­ti­gen. Dann, in der neu­ge­wähl­ten Volks­kam­mer, erklär­ten sich in den letz­ten Tagen der DDR Abge­ord­ne­te als Mit­ar­bei­ter des MfS, bis die Öffent­lich­keit aus­ge­schlos­sen wurde.

Dann war mei­ne Kame­ra kaputt. Ande­re Kame­ras nah­men spo­ra­disch ihren Platz ein, eine 8mm-Kame­ra, eine 16- und eine 35mm-Kame­ra, eine Beta SP, eine Digi Beta-Kame­ra und eine DV-Kame­ra. Die Bil­der die­ser Kame­ras ent­stan­den rechts und links der Fil­me, die ich dann mit ver­schie­de­nen Kame­ra­leu­ten gedreht habe. Man­che die­ser Abschwei­fun­gen wur­den Teil der Fil­me, ande­re Bil­der blie­ben übrig. Die­se Kame­ras lie­fen kurz nach dem Anschluss der DDR an die Bun­des­re­pu­blik bei der Her­stel­lung von Ord­nung, wäh­rend der Räu­mung besetz­ter Häu­ser in der Main­zer Stra­ße, sahen die ver­geb­li­chen Ver­su­che mit­ein­an­der zu reden, sahen, die Maschi­ne lief, sahen ande­re Ver­zweif­lung. Sie sahen die erleuch­te­ten Fens­ter im win­ter­li­chen Ber­lin aus einem rasen­den Zug und den Angriff auf die Pre­mie­re eines Films über die Zeit, die nun da war. Die einen Zuschau­er war­fen die Stei­ne zurück, die ande­ren blie­ben in der Ecke und sahen bei Angriff und Ver­tei­di­gung zu. Der Film auf der Lein­wand lief wei­ter. Als alles vor­bei war, grif­fen eini­ge der zuschau­en­den Zuschau­er die Kame­ra an.

Im Zucht­haus Bran­den­burg, sieb­zehn Jah­re spä­ter, fei­ern die Gefan­ge­nen Sil­ves­ter, mit­ten in Ber­lin steht eine Rui­ne, dar­in träumt ein Kind, und der inzwi­schen acht­zig­jäh­ri­ge Fritz singt das Lied vom Reh­lein und vom Kuckuck und der frü­hen Zeit. Bil­der von den spä­ten acht­zi­ger Jah­ren in der DDR bis in die unmit­tel­ba­re Gegen­wart des Jah­res 2008 in Deutsch­land. Das, was übrig geblie­ben ist, bela­gert mei­nen Kopf. Dar­in set­zen sich all die­se Bil­der immer wie­der neu zu etwas ande­rem zusam­men, als zu dem, für das sie ursprüng­lich gedacht waren. Sie blei­ben in Bewe­gung. Sie wer­den Geschich­te. Das Mate­ri­al bleibt unvoll­stän­dig. Es ist, was ich auf­ge­ho­ben habe, was mir wich­tig blieb. Mein Bild.“ (Tho­mas Heise)

“MATE­RI­AL zeigt Men­schen im Schock­zu­stand. In all den Doku-Soaps, die den Herbst 1989 inzwi­schen bis zur Unkennt­lich­keit illus­triert haben, kommt die­ser Zustand nicht vor. Hei­ses Film lässt ahnen, dass der Schock des Zusam­men­bruchs für einen Moment alles außer Kraft setz­te. Es bleibt die Star­re, die zwang­haft auf­recht erhal­te­ne Rou­ti­ne, die Ver­leug­nung des­sen, was pas­siert. (…) Den Anspruch, zu infor­mie­ren, mögen Fern­seh­re­dak­tio­nen stel­len. Hei­se unter­läuft ihn.“ (Chris­ti­na Bylow, BLZ)

“Hei­se prä­sen­tiert übrig geblie­be­nes Bild­ma­te­ri­al in Gestalt frei­er Asso­zia­tio­nen als Bewusst­seins­strom, des­sen Schwer­punkt auf der Zeit der ost­deut­schen Revol­te vor 20 Jah­ren liegt: (…) Das ver­bin­den­de Ele­ment ist der his­to­ri­sche Moment, in dem sich die Gescheh­nis­se noch im Fluss befin­den und vie­les mög­lich erscheint. Aus die­ser Bewe­gung des­sen, was sonst starr und für alle Zei­ten fixiert erscheint, ergibt eine enor­me Sog­wir­kung, die den Film ein­zig­ar­tig macht (…).” (R. Suchs­land, Filmdienst)