Deutschland 2022, 89 min, deutsche Originalfassung
Regie: Annika Pinske
Clara hat es geschafft. Weg aus der ostdeutschen Provinz führt sie als Dozentin ein unabhängiges Leben in Berlin und macht ihren Doktor in Philosophie. Zwischen ihren beruflichen Ambitionen, einer Affäre mit einem ihrer Studenten und der fordernden Freundschaft zu ihrer Doktormutter Margot bleibt wenig Zeit für die Familie. Als Clara mit ihrer jugendlichen Tochter Emma zum 60. Geburtstag ihrer Mutter Inge zurück in die Heimat fährt, wird sie mit ihrem Ideal von einem freien, selbstbestimmten Leben konfrontiert. Wie hoch ist der Preis, den sie dafür zahlen muss?
„Der Film beobachtet die Geschlechterhierarchien in den ganz einfachen alltäglichen Interaktionen der Figuren und zeigt, wie stark wir in der Gesellschaft auf bestimmte Rollen festgelegt sind und wie schwierig es ist, diesen zugewiesenen Platz zu verlassen, auszubrechen und etwas Neues zu finden. Diese Sehnsucht hat mit Trennung und Grenzen zu tun, und es gibt ebenso viel Schmerz wie Verheißung. Ich liebe diese Widersprüche im Leben. Sie sind eine Art kreativer Motor für mich. (…)
Es gibt ein Gefühl der Unsicherheit bei Clara, das mit ihrem sozialen Status, ihrem Geschlecht und ihrer Herkunft zusammenhängt. Vielleicht muss ich an dieser Stelle von mir selbst sprechen, denn diese Erfahrung teile ich mit meiner Protagonistin. Ich würde sagen, dass ich erst durch den Kontakt mit Westdeutschen Ostdeutsche geworden bin. Vorher war es mir völlig egal, aber sobald ich Frankfurt/Oder, meine Heimatstadt an der deutsch-polnischen Grenze, verließ, musste ich ständig erklären, woher ich komme. Plötzlich wurde ich mit allen möglichen Stereotypen über Ostdeutsche konfrontiert– immer als Kompliment verpackt, denn ich wurde überhaupt nicht als Ostdeutsche gesehen. Als Reaktion darauf habe ich mich gefragt, wie sich Westdeutsche jemanden aus dem Osten vorstellen, was einen verunsichern und vereinnahmen kann. Außerdem gibt es auch Vorurteile über die Arbeiterklasse, und ich kann gar nicht genau sagen, welche Vorurteile in welche Kategorie gehören, aber sie machen etwas mit deinem Selbstbewusstsein. Ich glaube auch, dass Claras beruflicher Ehrgeiz eine Art Wiedergutmachung für ihre Mutter ist. Als die Mauer fiel, verlor Inge ihre Arbeit und musste die demütigenden Prozeduren des Arbeitsamtes über sich ergehen lassen. Ihr bisheriges Leben wurde plötzlich in vielerlei, oft erniedrigender Weise als wertlos angesehen. Ich glaube, dass viele Kinder nach der Wiedervereinigung diese Erfahrung kennen und teilen. Ich möchte über die Stereotypen hinausgehen und stattdessen die Erfahrungen von Ostdeutschen ansprechen, die diesen Bruch in ihrer Biografie erlebt haben. Ich glaube, dass das für die Menschen in Westdeutschland etwas völlig Fremdes ist. Und hier gibt es wirklich etwas von den Ostdeutschen zu lernen. Ich glaube, das übliche Narrativ ist immer umgekehrt gewesen.“ (Interview mit Annika Pinske, Auszug)
„Mit ihrer in klar gerahmten, ruhigen Einstellungen gefilmten Abschlussarbeit an der dffb vermisst Annika Pinske am Beispiel der Universität einerseits die Reste der innerdeutschen Grenze. Andererseits seziert sie fast lustvoll die feudalen Strukturen des Hochschulbetriebs, in dem die Dinge oft auf eisige Weise unausgesprochen bleiben. Hier ist es Sandra Hüller in einem kurzen Auftritt als Gastdozentin, die gegenüber Claras Professorin all die Dinge formulieren darf, die karrierewillige Mitarbeiter des Mittelbaus mit großer Wahrscheinlichkeit eher stumm in sich hineinfressen. Welcher Professor kriegt schon jeden Tag die Worte ‚Sie sind ein böser Mensch‘ zu hören?“ (Tim Caspar Boehme, TAZ 15.02.22)