Vater­land

Deutsch­land 2003, 102 min, deut­sche Originalfassung

Regie: Tho­mas Heise

Irgend­wo in der sach­sen­an­hal­ti­schen Pro­vinz: Die klei­ne Ort­schaft liegt im Wind­schat­ten einer ver­las­se­nen Armee­ba­sis. Seit die Rus­sen abge­zo­gen sind, ist die Zeit ste­hen geblie­ben. Die Wie­der­ver­ei­ni­gung ist hier nie ange­kom­men. Man raucht F6, trinkt Club­co­la und Wod­ka. “Lie­ber zehn Rus­sen als einen Wes­si”, sagt Otti, des­sen Knei­pe gesell­schaft­li­cher Umschlag­platz des Dor­fes ist. Der Lebens­ra­di­us der Dorf­be­woh­ner beträgt nur ein paar Kilo­me­ter. “Ich fahr höchs­tens mal zum Frö­sche­teich,” sagt Moni, eine Haus­frau mit ras­pel­kur­zen Haa­ren und Nasen­pier­cing. (…) Eine end­lo­se Kame­ra­fahrt über die Beton­mau­ern eines Han­gars zeigt abblät­tern­de Far­be in wech­seln­den Grau­nu­an­cen. An einem Ort, der so wenig Zukunfts­per­spek­ti­ven bie­tet, wird die Zeit trans­pa­rent für die Ver­gan­gen­heit. Und so wird der Film zur archäo­lo­gi­schen Spu­ren­su­che. Da sind Brie­fe von Hei­ses Vater Wolf, aus einer Zeit, als die Armee­ba­sis als Arbeits­la­ger fun­gier­te. Da sind die Kriegs­ge­schich­ten der Dorf­be­woh­ner. Erin­ne­run­gen an die Rus­sen (…). (Nani Fux, DOK­fest Mün­chen 2003)

“Tho­mas Hei­se begibt sich in die­sem Doku­men­tar­film an jenen Ort, an dem sein Vater die Kriegs­zeit in einem Arbeits­la­ger für jüdi­sche Misch­lin­ge ver­brin­gen muss­te. Stra­guth in der Nähe von Zerbst (Sach­sen-Anhalt) hat­te vor­her schon der Wehr­macht und danach der Sowjet­ar­mee als Stand­ort gedient. Seit 2000 übten hier ‚Spe­cial For­ces‘ der NATO den Häu­ser­kampf. Ein Unort am Ende der Zeit, ver­ges­sen von der Gegen­wart. Nicht ein­mal die Spra­che der Dorf­be­woh­ner ist mehr rich­tig zu ver­ste­hen. In der wohn­kü­chen­ar­ti­gen Knei­pe von ‚Onkel Natho‘ lau­fen rudi­men­tä­re Kom­mu­ni­ka­ti­ons­strän­ge zusam­men. Hier ist stets vom Krieg die Rede, so als hät­te die­ser nie auf­ge­hört. Auf den ers­ten Blick könn­te man mei­nen, Hei­se ver­su­che sich in sei­nem Doku­men­tar­film an einer Art Pro­vinz­folk­lo­re und Reli­qui­en­schau der DDR. Doch VATER­LAND ist eine Spu­ren­su­che mit offe­nem Aus­gang. Eine Expe­di­ti­on, die den grau­en Asphalt des klei­nen Dor­fes auf­bricht, in die Sedi­ment­schich­ten und Abwas­ser­ka­nä­le der Geschich­te vor­stößt. Hei­se gräbt die deut­sche Geschich­te um, vor­sich­tig wie ein Archäo­lo­ge, der jedes Fund­stück auf­hebt, egal, aus wel­chem Trüm­mer­hau­fen es ursprüng­lich stam­men mag.” (Kat­ja Nicode­mus: DIE ZEIT 48/2003)