Weil es nicht so bleiben kann, wie es war, weil nichts mehr ist, wie es uns schien, streichen wir das Wort Russland aus der Erläuterung zum Namen unseres Kinos. Fortan heißt es: Kino Krokodil – Filme aus Mittel- und Osteuropa.
Wir tun dies nicht nur, weil der Zugriff auf russische Produktionen in Zeiten des Krieges und dem damit verbundenen Zusammenbruch des Zahlungsverkehrs fast unmöglich geworden ist. Eingeschränktes Angebot und komplizierte Beschaffung kennen wir seit Beginn unseres Kinobetriebs. Unser Verhältnis zu vielen russischen Institutionen oder Geschäftspartnern, nicht zu den Zuschauern oder Filmschaffenden, war seit langem „ohnehin zum Heulen, Genossen!“ (Zitat, Krokodil Neujahrsbrief 2021). Wer wollte, durfte uns wegen des anmaßenden Untertitels „Filme aus Russland und …“ unwidersprochen als Hochstapler bezeichnen. Wir fühlten uns selbst oft so. Nicht wenige Gäste honorierten trotzdem unsere Bemühungen und ganz unabhängig davon galten wir vielen einfach als das „Russenkino“. Leider empfanden das auch andere osteuropäische Gäste so, und diese störten sich mehr und mehr daran.
Vielleicht, weil wir nicht bemerken wollten, was wir hätten schon längst bemerken sollen. Die Begriffe Russland und russisch (häufig auch als Synonym für Sowjetunion und sowjetisch verwendet) trennen mehr als das sie (immer noch) verbinden. Viele Osteuropäer*innen leiden nicht erst seit dem aktuellen Krieg unter den im Namen Russlands begangenen Verbrechen und unter einem als erdrückend oder kolonial empfundenen Selbst- und Fremdverständnis von russischer Kultur. Der Begriff Russland soll deshalb den Namen unseres Kinos nicht mehr dominieren.
Trotzdem werden wir weiter russische und sowjetische Filme spielen. Nach Kriegsbeginn hatten wir zunächst mehrere, bereits terminierte, sowjetische Titel wieder aus dem Programm genommen. Unter anderem auch PETSCHKI LAWOTSCHKI – REISEBEKANNTSCHAFTEN von Wassili Schukschin, eine eigentlich schöne, fröhliche Geschichte über eine Reise auf die Krim. Doch wir wollten nicht so tun, als sei inzwischen nichts geschehen. Ein Programm spielen, dass an „Willi Schwabes Rumpelkammer“ erinnert hätte, jene Sendung des DDR-Fernsehens, in der die guten, alten UFA Filmeausschnitte liefen, aber nie von Nationalsozialismus und Terror die Rede war.
Kino lässt uns in fremde Rollen schlüpfen, lässt uns die Welt mit anderen Augen sehen und wir laufen manchmal in die glückliche Gefahr, in uns selbst Böses oder Unangenehmes zu entdecken. Warum sollen wir also nicht über Verführung und Verführbarkeit sprechen? Warum sollten wir uns nicht mit verführenden Filmen und einfachen Antworten auf komplizierte Fragen auseinandersetzen? Auch solche Filme gehören unbedingt weiter in unser Programm, solange wir nicht so tun, als ob früher alles schöner und besser gewesen wäre.
Doch wie sollen wir reagieren, wenn Filmemacher mit ihren Filmen vielleicht nicht einmal verführen wollten und es trotzdem tun? Auf Stanislaw Muchas jüngste Produktion und ihren Start im August hatten wir eigentlich lange gefreut. Wir kennen den Regisseur als charmanten Erzähler, viele unserer Gäste lieben seine Filme, die beiden letzten sahen bei uns jeweils knapp über 1.000 Zuschauer. Solche Ergebnisse schaffen nur wenige Streifen, für uns, die wir mangels osteuropäischer Blockbuster, nie Blockbuster spielen können, sind das auch wirtschaftlich wichtige Größen. Muchas neuer Film WETTERMACHER erzählt von russischen Meteorologen, die am Polarkreis arbeiten. Als Soundtrack läuft „melancholischer russischer Pop“. So beschreibt es jedenfalls für die nicht vollständig zufriedene Rezensentin der Zeitschrift Indiekino ihren Lesern. Der Film sei „seines Settings wegen aber trotzdem sehenswert“, denn so habe man „russischen Pop noch nie gehört“. Für viele westliche Zuschauer, die ahnungslose Rezensentin eingeschlossen, dürfte das durchaus richtig sein. Sie weiß sicher nicht, dass die Band ЛЮБЭ mit den schönen traurigen Liedern zu den erklärten Lieblingsbands Putins gehört, die bei Großkonzerten sowohl die Krimannexion als auch die jüngste sogenannte ‘Spezialoperation’ bejubelte. „Erinnerst du dich, wie ich bis zum Blut kämpfte? Für dich, für dich, für dich, meine Heimat für Dich!“ übersetzt der Regisseur einen Songtext und kommentiert: „Dieses Lied hörte Aleksandr (der Hauptprotagonist) immer im Krieg.“ Wir erfahren nicht, in welchem Krieg Aleksandr kämpfte. Kämpfte er in Tschetschenien, Georgien, Syrien oder der Ukraine? Kämpfte er da wirklich für seine Heimat oder erschien es ihm nur so? Inzwischen macht sich der Held zu einem anderen Einsatz auf. Pathos oder Ironie? Aleksandr beschützt seine Frau nun vor gefährlichen Eisbären. Vorsicht Glatteis, wir verzichten lieber auf den Film und ich schließe besser mit einer persönlichen Geschichte.
„Russische Bücher las man nicht, in russische Filme ging man nicht. Das war sozusagen pränatales Wissen. In meinem ganzen Leben bin ich nicht ins Kino gegangen, um mir einen russischen Film anzusehen.“ Diese Sätze hat Andrzej Stasiuk geschrieben. Ich halte sie für schön gelogen oder für Aufschneiderei. Trotzdem würde ich sie auch für mich und meine Vergangenheit unterschreiben, wissend, dass die Sache für einen Deutschen vielleicht noch etwas komplizierter ist. Kennen Sie etwa keine widersprüchlichen Gefühle? Natürlich habe ich als Jugendlicher sowjetische Filme gesehen, oft freiwillig, im Kino fast allein oder mit ganz wenigen Leuten. Trotzdem habe ich in der Schule Russisch gehasst und beim Anblick von Matrjoschkas in Schrankwänden wird mir bis heute übel. Verschonen Sie mich auch mit dem Lied von Krokodil Gena. Singen Sie es bitte nicht einmal zum Geburtstag des Kinos!
Die folgende Geschichte hat mit dem eben Gesagten nichts zu tun und gehört doch dazu. Meine verstorbene Tante Wera* stammte ursprünglich aus der Stadt Donezk in der Ukraine und lebte später in Riesa.
Ihren Sohn, meinen Cousin Sascha, habe ich schon lange nicht mehr gesehen. So ist das eben, eigentlich ganz normal, uns verbinden Familie, nicht Freundschaft. Sascha lebt jetzt irgendwo im Westen. Als Kinder sprachen wir sächsisch, sein neues Schwäbisch verstehe ich kaum. Als ich ihn zum letzten Mal wieder bei einer Familienfeier traf und seinen Namen rief, tat er, als hätte er nicht gehört. Dabei nannten ihn früher doch alle bei seinem russischen Kosenamen: Sascha. Wir Kinder, die Erwachsenen und seine russische Mutter Wera. Im Gegensatz zu uns Kindern wusste sie von seinem eigentlichen, in die Geburtsurkunde eingetragenen Vornamen, der weder hier noch da besonders auffällig klingt. Sascha, das Kind einer nach dem 2. Weltkrieg in Donezk/Ukraine zwangsangesiedelten Russin, möchte heute nicht mehr Sascha heißen, sondern nur noch mit seinem offiziellen Vornamen gerufen werden. Vielleicht ist es Anpassung? Vielleicht will mein ostdeutscher Cousin mit seinen russischen Wurzeln im Westen nicht auffallen? Weiß er nicht, dass Sascha im Westen beinahe ein Modename war? Nur im Osten hieß niemand so. Da hieß man nämlich Rony, Jaqueline oder Madleen. Vielleicht treiben ihn stärkere Gründe? Wahrscheinlich ist er auch einfach verletzt. Sollte ich Sascha jemals wieder treffen, werde ich ihn, seinem Wunsch entsprechend bei seinem offiziellen Namen nennen. Das muss komisch klingen aus meinem Mund. Von mir hat er das noch nie so gehört. Wenn ich ihn bei seinem neuen offiziellen Namen nenne, werden wir beide wieder an den alten Sascha denken und Sascha wird die Erinnerung an seine verleugneten Wurzeln wieder nicht los.
Wer sind wir eigentlich, wer wollen wir sein, wie sehen uns andere und zu wem werden wir von anderen gemacht? Im Kino finden Sie nicht nur eine Antwort darauf. Und allen, die in unserem Kino immer noch regelmäßig Tickets bei einer Russin kaufen, sei noch einmal nachdrücklich gesagt: Kollegin Debora schaut auf italienische Wurzeln. (gh)
* Alle Namen geändert