Der drit­te Bruder

Deutsch­land 2025, 111 min, deut­sche Originalfassung

Regie: Kath­rin Jahrreiß

Auf der Suche nach der Mut­ter ihres Vaters, stößt die Regis­seu­rin auf die Geschich­te drei­er Brü­der, die im Drit­ten Reich und im geteil­ten Deutsch­land zer­ris­sen sind zwi­schen den Fron­ten poli­ti­scher Ideo­lo­gien. 
Her­mann macht bei den Nazis Kar­rie­re als Völ­ker­recht­ler und ver­tei­digt nach dem Krieg in Nürn­berg einen Kriegs­ver­bre­cher. Sei­ne Brü­der haben jüdi­sche Frau­en. 
Walt­her flüch­tet recht­zei­tig nach Ame­ri­ka, Otto, „der drit­te Bru­der“ und der Groß­va­ter der Fil­me­ma­che­rin, glaubt als Rechts­an­walt an den Rechts­staat und will in Dres­den blei­ben. 
Sei­ne Frau Ruth wird denun­ziert und in Ausch­witz ermor­det. Den Söh­nen sagt er, sie sei in einem Sana­to­ri­um gestor­ben und fort­an ver­schwin­det sie im Nebel einer ohn­mäch­ti­gen Verdrängung. 

In der DDR wird Otto durch die Sta­si selbst zum Denun­zi­an­ten. 
War er Opfer oder hat man immer eine Wahl? 

Auf der fil­mi­schen Rei­se wird spür­bar, wie die Ent­schei­dun­gen des drit­ten Bru­ders die Fami­lie über Genera­tio­nen geprägt haben und wie Ver­drän­gung und Sprach­lo­sig­keit wei­ter­ge­ge­ben wurden. 

Als eine Art Tie­fen­boh­rung in eine deutsch-jüdi­sche Fami­li­en­ge­schich­te von der Nazi­zeit, über das geteil­te Nach­kriegs­deutsch­land bis ins Heu­te stellt der Film die sehr gegen­wär­ti­ge Fra­ge nach der eige­nen Hal­tung gegen­über einem tota­li­tä­ren Regime.

„Die Ver­gan­gen­heit und Her­kunft mei­nes Vaters war für mich stets wie ein Buch mit lee­ren Sei­ten. Ich woll­te bes­ser ver­ste­hen, wie mein Vater der gewor­den ist, der er ist. War­um hat er so ein nega­ti­ves Fami­li­en­bild? Er habe noch ein ganz kla­res Bild von sei­nem Vater, erfah­re ich. Es sei aber ‚der Vater von hin­ten‘. Die­ses Bild ken­ne ich, auch ich sehe mei­nen Vater so vor mir, wenn ich an ihn den­ke. Wie kom­men wir bei­de von unse­rem inne­ren Bild des ‚Vaters von hin­ten‘ los?

Durch den Fund der Brie­fe habe ich schnell gemerkt, dass auch die deut­sche Zeit­ge­schich­te viel damit zu tun hat, dass mein Vater kei­nen Fami­li­en­sinn ent­wi­ckeln konn­te und die gan­ze Ver­gan­gen­heit hin­ter dem Eiser­nen Vor­hang las­sen woll­te. Mir wur­de da zum ers­ten Mal klar, wie sehr die Zeit­ge­schich­te unse­re Bio­gra­phien mit­ge­stal­tet, obwohl wir glau­ben, alles selbst in der Hand zu haben. Mit gro­ßem Erkennt­nis­in­ter­es­se fing ich an, in unse­rer Fami­li­en­ver­gan­gen­heit zu gra­ben. Über mein per­sön­li­ches Inter­es­se hin­aus erzählt die Geschich­te der drei Brü­der für mich exem­pla­risch das Uni­ver­sel­le im Indi­vi­du­el­len: jeder der drei Brü­der stellt mit sei­ner Bio­gra­phie als pars pro toto jeweils eine der Mög­lich­kei­ten dar, wie man in einem tota­li­tä­ren Regime über­le­ben kann. Zer­ris­sen zwi­schen ihren Ent­schei­dun­gen, zwi­schen Flucht, Trotz und Kol­la­bo­ra­ti­on, lau­fen die Wege der Brü­der aus­ein­an­der, nach­dem sie, gemein­sam in Dres­den beim Vater auf­ge­wach­sen, im Ers­ten Welt­krieg noch an der glei­chen Front gekämpft hatten.

Der Film erzählt dabei kei­ne Hel­den­ge­schich­te, son­dern ist eher eine Art viel­schich­ti­ge Tie­fen­boh­rung, die ver­sucht, die Prot­ago­nis­ten in ihrer Fehl­bar­keit, ihrer Ambi­va­lenz und Wider­sprüch­lich­keit mensch­lich nah­bar zu zei­gen. Dar­aus ergibt sich die Fra­ge nach Hal­tung und Moral in Zei­ten exis­ten­ti­el­ler Bedro­hung durch eine Gewalt­herr­schaft. Der dif­fe­ren­zier­te Blick auf die Grau­stu­fen der dama­li­gen Lebens­wirk­lich­keit ist für mich der eigent­li­che Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis. Die vie­len Brie­fe mei­ner Vor­fah­ren haben mir die­se Tür geöff­net und mir gehol­fen, die Per­spek­ti­ve zu wech­seln und mir, anders als bei einer Drauf­sicht, die dama­li­ge Zeit aus Sicht der Betrof­fe­nen vor­zu­stel­len. Durch eine Betrach­tung der Prot­ago­nis­ten in der Viel­schich­tig­keit ihrer dama­li­gen Lebens­wirk­lich­keit hat­te ich das Gefühl, ihnen am ehes­ten gerecht wer­den zu kön­nen. So ent­stand für mich eine Nah­bar­keit, in der ich mich auch selbst spie­geln konn­te: Was hät­te ich wohl getan, damals? Was wür­de ich heu­te tun, käme eine Dik­ta­tur an die Macht? Das Land ver­las­sen, mich dage­gen stel­len oder ver­su­chen mög­lichst unbe­scha­det durchzukommen?

Der bio­gra­phi­schen Prä­gung durch die poli­ti­sche Zeit­ge­schich­te kann sich nie­mand ent­zie­hen und obwohl klar ist, dass sich vie­le Ant­wor­ten auf Fra­gen der Gegen­wart in der Ver­gan­gen­heit fin­den, herrscht inner­fa­mi­li­är oft eine gro­ße Sprach­lo­sig­keit zwi­schen den Genera­tio­nen. Wie­viel die Her­kunft und
Ver­gan­gen­heit mit dem eige­nen Leben zu tun haben ver­steht man mög­li­cher­wei­se aber auch erst so rich­tig, wenn man selbst schon etwas älter ist. Ich ver­mu­te, dass in fast allen deut­schen Fami­li­en noch Kis­ten im Kel­ler ste­hen, die unaus­ge­packt geblie­ben sind. Vie­le Geschich­ten sind noch nicht erzählt wor­den und wenn wir jetzt nicht fra­gen, neh­men sie unse­re Eltern am Ende mit ins Grab… Als Vater und Toch­ter schau­en wir aus dem Heu­te als zwei­te und drit­te Genera­ti­on auf die Geschich­te: er ist mit Ver­drän­gung auf­ge­wach­sen und frem­delt mit Ver­wandt­schaft und Fami­lie. Ich aber möch­te alles wis­sen und mei­ner Oma ein Denk­mal set­zen, denn ich fin­de, erst wenn man ver­ges­sen wird, ist man wirk­lich gestorben.

Mein Vater war von Anfang an bereit, mein Film­pro­jekt zu unter­stüt­zen, bedau­er­te dabei aber stets, mir nicht hel­fen zu kön­nen, da er kaum etwas wis­se. Manch­mal ließ er dann bei­läu­fig und schein­bar unbe­wusst eine wich­ti­ge Infor­ma­ti­on fal­len, wie ein Puz­zle­teil­chen, das ich eif­rig auf­hob, um es in mein 1000-Tei­le Puz­zle einzuordnen.

Als ich ihm mei­ne Recher­che­er­geb­nis­se prä­sen­tier­te und mit ihm zu den frü­he­ren Schau­plät­zen fuhr, schien er immer mehr Neu­gier auf sei­ne eige­ne Geschich­te zu ent­wi­ckeln. Dass er sich ein­ge­las­sen hat auf die­se Rei­se und auf sei­ne Toch­ter als ‚Rei­se­lei­te­rin‘ war ein gro­ßes Glück für mich, für uns bei­de viel­leicht.“ (Regie­state­ment)