Wie lan­ge lebt ein Mensch? Fil­me von Judit Elek | Ber­lin, 12.–28. Sep­tem­ber 2025

im Kino Kro­ko­dil (KK) und im Col­le­gi­um Hun­ga­ri­cum Ber­lin (CHB) |
Die Werk­schau ist Teil der vom Haupt­stadt-Kul­tur­fonds geför­der­ten Ver­an­stal­tungs­rei­he Arse­nal on Location. |

Judit Elek (*1937) ist eine zen­tra­le Figur sowohl des unga­ri­schen Doku­men­tar­films wie auch des Spiel­film­schaf­fens ihres Lan­des. Nach dem Stu­di­um an der Film­hoch­schu­le Buda­pest, das sie 1956 auf­nahm, kurz vor dem unga­ri­schen Volks­auf­stand, ent­stan­den ihre ers­ten kur­zen Fil­me im von ihr mit­be­grün­de­ten Béla Balázs Stu­dio, ein Ort der Expe­ri­men­tier­freu­de und künst­le­ri­schen Frei­heit. Ihr Leben wie ihre Fil­me sind eng ver­knüpft mit den geschicht­li­chen Ereig­nis­sen des 20. Jahr­hun­derts; ihre jüdi­sche Her­kunft fin­det vor allem in ihren spä­te­ren Wer­ken in doku­men­ta­ri­scher sowie fik­ti­ver Form Ein­gang. Über­haupt stellt Eleks Œuvre die „Trenn­bar­keit von fik­tio­na­len und nicht-fik­tio­na­len Fil­men immer wie­der erfolg­reich in Fra­ge. Ein Werk, das dar­in mit den zeit­gleich ent­ste­hen­den fil­mi­schen Erneue­rungs­be­we­gun­gen genau­so kom­mu­ni­ziert wie mit einer bio­gra­fi­schen Situa­ti­on: Bei der Abschluss­ver­ga­be an der Film­hoch­schu­le, wo Elek als ers­te Frau über­haupt zum Regie­stu­di­um zuge­las­sen wur­de, hat­te sie als Frau kein Diplom für Spiel­film-Regie erhal­ten, wes­halb sie zunächst Doku­men­ta­tio­nen fürs unga­ri­sche Fern­se­hen rea­li­sier­te.“ (Frie­de­ri­ke Horst­mann) Kom­pro­miss­los war Judit Elek immer. Nach ihrem ers­ten, 1969 ent­stan­de­nen Spiel­film wur­de sie auf­grund eines Dreh­buchs zu den Schau­pro­zes­sen gegen die unga­ri­schen Jako­bi­ner des 18. Jahr­hun­derts mit einem inof­fi­zi­el­len Berufs­ver­bot belegt und konn­te acht Jah­re lang kei­ne Spiel­fil­me dre­hen. Eine Wahr­haf­tig­keit im Abbil­den der Rea­li­tät zeich­net nicht nur Eleks Doku­men­tar­fil­me, son­dern auch ihre Spiel­fil­me aus, in denen sie oft die Bezie­hung zwi­schen Men­schen, ihr Ein­ge­bun­den-Sein in ihre Umwelt, Gefüh­le von Ein­sam­keit und Iso­la­ti­on ins Zen­trum stellt.

KAS­TÉ­LY­OK LAKÓI (Inha­bi­tants of Cast­les in Hun­ga­ry, Ungarn 1966 | 12.9. KK) zeigt den Zusam­men­prall von alten Struk­tu­ren und der sozia­lis­ti­schen Gegen­wart Ungarns. „1966 mach­te ich den Doku­men­tar­film KAS­TÉ­LY­OK LAKÓI, über fünf Schlös­ser in Göd­öl­lő, die ehe­mals könig­li­che Resi­denz der Habs­bur­ger waren. Als ich dort film­te, war z.B. ein Teil des Gebäu­des zu einem Alters­heim umfunk­tio­niert wor­den, ein ande­rer zu einer rus­si­schen Kaser­ne. Alles war in einem sehr ver­fal­le­nen Zustand. Her­un­ter­ge­kom­me­ne Paläs­te, in denen z.B. alte, ver­wirr­te Men­schen wohn­ten, die aber eine eige­ne Mei­nung über die Welt besa­ßen und Schick­sa­le zu erzäh­len hat­ten. Und hin­ter ihnen sieht man im Film die baro­cken Fas­sa­den und schnee­wei­ßen Kami­ne.“ (Judit Elek)

Ihr Lang­film­de­büt gab Elek mit dem zwei­tei­li­gen Film MED­DIG ÉL AZ EMBER? (How Long Does Man Live?, Ungarn 1968 | 12.9. KK, Ein­füh­rung: Bar­ba­ra Wurm), in dem sie zunächst die letz­ten Berufs­ta­ge eines Fabrik­ar­bei­ters beob­ach­tet und sei­nen kör­per­li­chen und geis­ti­gen Ver­fall nach dem Ren­ten­be­ginn sowie anschlie­ßend sei­nen Nach­fol­ger, einen Jugend­li­chen, der gera­de sei­ne Aus­bil­dung beginnt. Die­ser Film gewann einen Haupt­preis bei den Kurz­film­ta­gen Ober­hau­sen, wur­de anschlie­ßend 1968 in Can­nes in der Semai­ne de la Cri­tique gezeigt („Der letz­te Film, der vor­ge­führt wur­de, bevor Truf­faut und Godard den Vor­hang her­un­ter­ris­sen und die Revo­lu­ti­on aus­brach.“ – Judit Elek) und ist heu­te eines von Eleks bekann­te­ren Werken.

SZI­GET A SZÁ­RAZF­ÖL­DÖN (Lady from Con­stan­ti­nop­le, Ungarn 1969 | 12. KK & 18.9. CHB, Ein­füh­rung: Gary Vani­sian) Die Prot­ago­nis­tin von Judit Eleks ers­tem lan­gen Spiel­film zeigt die täg­li­che Rou­ti­ne einer von der bekann­ten Schau­spie­le­rin Manyi Kiss ver­kör­per­ten älte­ren Frau. Sie lebt ganz in ihren Erin­ne­run­gen, was sich sowohl in den alten Möbeln und Gegen­stän­den ihrer geräu­mi­gen Woh­nung wie in den von ihr ger­ne auf­ge­leg­ten Schla­ger­plat­ten wider­spie­gelt. Das nach­bar­schaft­li­che Zusam­men­le­ben ist geprägt von Nähe und gele­gent­li­cher Hilfs­be­reit­schaft, aber auch von Klatsch und Miss­gunst. Als sie sich ent­schließt, ihre gro­ße Woh­nung zum Tausch anzu­bie­ten, lernt sie unter­schied­lichs­te Men­schen ken­nen. Eine Grup­pen­be­sich­ti­gung wird bald zur aus­ge­las­se­nen Fei­er, wie über­haupt die Dar­stel­lung gewöhn­li­cher Ereig­nis­se immer wie­der ins Sur­rea­le kippt. Eleks Blick auf die „Lady von Kon­stan­ti­no­pel“ ist vol­ler Zärt­lich­keit und auch Melan­cho­lie, die Viel­falt der Lebens­ent­wür­fe in Buda­pest regis­triert sie mit fei­ner Ironie.

ISTEN­ME­ZE­JÉN 1972–73-BAN (Isten­me­ze­jén, ein unga­ri­sches Dorf, Ungarn 1974 | 16.9. KK) Ein berüh­ren­des, fein­füh­li­ges doku­men­ta­ri­sches Dipty­chon ent­stand in den 70er Jah­ren im Dorf Isten­me­ze­je (dt. Got­tes­feld) in einer länd­li­chen Berg­ar­bei­ter­ge­gend, wo Män­ner und Jun­gen in einem Berg­werk arbei­ten und jun­ge Mäd­chen mit 15 Jah­ren hei­ra­ten. Es ist das Por­trät zwei­er Mäd­chen, Ilon­ka und Mari­ka, die sich zwi­schen Feld­ar­beit und Schu­le, Ehe und Umzug in die Stadt ent­schei­den müs­sen, ohne das wirk­lich ent­schei­den zu kön­nen. „Die sozio­gra­fi­sche Stu­die zeigt Eleks Fas­zi­na­ti­on für Men­schen, Behau­sun­gen, Orte. Sie han­delt von Lebens­be­din­gun­gen jun­ger Frau­en in einem klei­nen Dorf, von ihren Wider­stän­den, ihren Sehn­süch­ten. Zugleich erwei­tert der Film durch die zeit- und raum­do­ku­men­ta­ri­schen Aspek­te den Blick über indi­vi­du­el­le Frau­en­schick­sa­le hin­aus, ohne jedoch unspe­zi­fisch zu wer­den.“ (Frie­de­ri­ke Horstmann)

Mit EGYS­ZERŰ TÖR­TÉ­NET (Ein­fa­che Geschich­te, Ungarn 1975 | 16.9. KK) setzt Elek ihre Lang­zeit­be­ob­ach­tung im Dorf Isten­me­ze­je fort, ein geo­gra­fisch und sozi­al von städ­ti­schen Zen­tren weit ent­fern­tes Dorf, in dem gesell­schaft­li­che Fort­schrit­te ver­spä­tet ein­tref­fen. In ihrer Kon­zen­tra­ti­on auf die bei­den Mäd­chen und ihre Fami­li­en schält sich ein Bild des länd­li­chen Ungarn her­aus, das weit über Ein­zel­schick­sa­le hin­aus­geht. „Sie ver­an­schau­li­chen, wie aus doku­men­ta­ri­schem Mate­ri­al ein Roman ent­steht, der trotz­dem ein Doku­men­tar­film bleibt. Mei­ne Fil­me sind sehr per­sön­lich. Sie kon­zen­trie­ren sich sehr auf Men­schen, Gefüh­le und Bezie­hun­gen. Es geht um die Lie­be, um Ent­schei­dun­gen über den Lebens­weg, Ehe, Selbst­mord und Selbst­mord­ver­su­che.“ (Judit Elek) Geplant war auch ein drit­ter Teil, in dem Judit Elek ihre eige­ne Rol­le bei der Ent­ste­hung der Fil­me reflek­tie­ren woll­te, was sich jedoch nie verwirklichte.

TALÁL­KO­ZÁS (Encoun­ter, Ungarn 1963 | 18.9. CHB) Eine Frau und ein Mann tref­fen sich an einem Nach­mit­tag in Buda­pest, schlen­dern durch die Stadt, nähern sich ein­an­der vor­sich­tig an. Bei­de sind vol­ler Erwar­tun­gen und Hoff­nun­gen, die das Ken­nen­ler­nen und den Wunsch nach Ver­bin­dung eher erschwe­ren als ver­ein­fa­chen. Gedreht mit Stil­mit­teln des Direct Cine­ma, mit nicht­pro­fes­sio­nel­len Schauspieler*innen und impro­vi­sier­ten Dia­lo­gen, ent­steht in gro­ßer Unmit­tel­bar­keit das berüh­ren­de Por­trät einer Begegnung.

TUTA­JOS­OK (Memo­ries of a River, Ungarn/​Frankreich 1989 | 24.9. KK, Ein­füh­rung: Jörg Tasz­man) Am 1. April 1882 ver­schwand ein 14-jäh­ri­ges Mäd­chen aus einem Dorf im nord­öst­li­chen Ungarn. Wil­de Gerüch­te ent­stan­den, sie sei einem jüdi­schen Ritu­al­mord aus Anlass des zwei Tage spä­ter begin­nen­den Pes­sach­fes­tes zum Opfer gefal­len. Obwohl das nach­weis­lich ertrun­ke­ne Mäd­chen Mit­te Juni 1882 in der Tis­za gefun­den wur­de, begann ein dif­fa­mie­ren­der Pro­zess gegen 15 Mit­glie­der der ört­li­chen jüdi­schen Gemein­de. Er ende­te zwar mit Frei­sprü­chen, ist aber wie auch der Drey­fus-Pro­zess eini­ge Jah­re spä­ter in Frank­reich Aus­druck eines immer lau­ter wer­den­den Anti­se­mi­tis­mus in der 2. Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts ange­sichts der erfolg­rei­chen „Jüdi­schen Eman­zi­pa­ti­on“ in den Jahr­zehn­ten davor. Die soge­nann­te „Affä­re von Tis­za­es­zlár“ wur­de mehr­fach im Kino und in der Lite­ra­tur ver­ar­bei­tet, u.a. von Arnold Zweig (Ritu­al­mord in Ungarn, 1914) und G.W. Pabst (Der Pro­zess, 1948). Elek schrieb das Dreh­buch zu ihrem Film mit dem eben­falls jüdisch­stäm­mi­gen Autor Péter Nádás, einem der wich­tigs­ten unga­ri­schen Schrift­stel­ler der Gegen­wart. Gemein­sam gestal­te­ten sie den Stoff als epi­sche, bild­ge­wal­ti­ge Erzäh­lung; Elek insze­nier­te für die Ent­ste­hungs­zeit aus­ge­spro­chen unge­wöhn­lich wei­te Stre­cken des Films in Groß­auf­nah­men und mit einer gera­de­zu frap­pie­ren­den doku­men­ta­ri­schen Unmittelbarkeit.

MONDA­NI A MOND­HAT­AT­LANT – ELIE WIE­SEL ÜZE­NE­TE (To Speak the Unspeaka­ble – The Mes­sa­ge of Elie Wie­sel, Ungarn/​Frankreich/​USA 1996 | 28.9. KK) „Nie wer­de ich die Augen­bli­cke ver­ges­sen, die mei­nen Gott und mei­ne See­le mor­de­ten, und mei­ne Träu­me, die das Ant­litz der Wüs­te annah­men. Nie wer­de ich das ver­ges­sen, und wenn ich dazu ver­ur­teilt wäre, so lan­ge wie Gott zu leben. Nie.“ Elie Wie­sel gelingt es in sei­nem Debüt­ro­man Die Nacht (1958) für das unsag­ba­re Grau­en der Sho­ah Wor­te zu fin­den, die, ein­mal gele­sen, als stän­di­ge Mah­nung fort­dau­ern. Judit Eleks Film wie­der­um ist eine beein­dru­ckend sub­ti­le, umfas­sen­de und zugleich unauf­dring­li­che Annä­he­rung an den Men­schen Elie Wie­sel, sein uner­müd­li­ches Wir­ken gegen das Ver­ges­sen und sein zeit­lo­ses Werk, das u.a. mit dem Frie­dens­no­bel­preis aus­ge­zeich­net wur­de. Den zen­tra­len Teil des Films bil­det die von der Kame­ra minu­ti­ös doku­men­tier­te ers­te Rück­kehr Wie­sels in sein Hei­mat­dorf Sighe­tu Mar­mați­ei und in das Ver­nich­tungs­la­ger Ausch­witz-Bir­ken­au, das er über­lebt hat­te. (Annet­te Lingg/​Gary Vanisian)

Eine Film­rei­he in Koope­ra­ti­on mit dem Film­kol­lek­tiv Frank­furt. Dank geht an Gary Vanisian.

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