Kurzfilmprogramm – Werkstattgespräch – EINTRITT FREI am Fr, 03.03. um 20 Uhr
Zur Entgegennahme eines Preises der DEFA-Stiftung standen wir schon einmal zusammen auf einer Bühne. Für das heraufschauende Publikum muss komisch ausgesehen haben. Tommys Figur ruhte massig ruhig und schwer, ich daneben spindeldürr, aufgeregt, unstetig wie eine Fliege. Fliegen können 200 Bilder pro Sekunde erkennen. Menschen weniger als achtzehn. Werden es mehr, erzeugt das menschliche Gehirn im Kopf eine fließende Bewegung. Für das Kino dreht Thomas Plenert mit 24 Bildern pro Sekunde. Auf dem Podium, neben ihm, nahm ich angeregt durch das Adrenalin und die Aufregung gefühlt mindestens 220 Bilder pro Sekunde wahr. Seine Augen wahrscheinlich weniger als zehn, vielleicht auch nur drei oder eins pro Sekunde. Auf die Frage, wie er bei einem bestimmten Film gearbeitet habe, erzählte er einmal, er selbst liege meist hinten im Auto und döse vor sich hin. Der Regisseur sitze derweil vorn, sage ab und an, was zu sehen sei, und er würde mittlerweile am Tonfall der Stimme erkennen, was man tatsächlich drehen müsste, wann es sich also wirklich lohne, selbst die Augen zu öffnen. Nach meiner Vorstellung blinzelt er nur.
Obwohl auch beim Dokumentarfilm Absprachen existieren, lebt dieser doch vom unvorhersehbaren, vom geglückten Moment. Die Zeit, solche Momente einzufangen war früher vom vorher eingekauften Filmmaterial und dessen Laufzeiten bis zum Kassettenwechsel begrenzt. Ohne solche Einschränkungen dürfte das Drehen heute einfacher geworden sein. Doch den richtigen Augenblick findet eben nicht der, der die digitale Kamera ein und danach lange einfach nicht wieder ausschaltet. Doch wie entscheidet man über den richtigen Zeitpunkt, woher weiß man, ob man mitten im Gespräch plötzlich irgendwo hinschwenken, auf irgendetwas Unvorhergesehenes reagieren muss? Fliegen können 200 Bilder pro Sekunde erkennen. Sie reagieren wahnsinnig schnell, sind immer besser und früher informiert. Aus der gemeinsamen Situation auf der Bühne weiß ich, dass meine Augen in bestimmten Situationen mindestens ebenso viele Bilder wahrnehmen können. Hätte ich vielleicht deshalb Kameramann werden sollen? Sehe ich allein deshalb wirklich mehr?
Als Kameramann zeichnet Thomas Plenert Bewegungen für das Kino auf. Die ersten Apparate dazu hießen wie die Abspielstätten Kinematographen, waren also Geräte, die die Kinesis, also Bewegung aufnehmen konnten. Aristoteles versteht unter Bewegung (altgriechisch: κίνησις kínēsis) jegliche Art von Veränderung. Bewegung ist für ihn das endlich zur-Wirklichkeit-Kommen eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches ist. Als Kameramann muss man vielleicht das Wesen seines Gegenübers, der Situation erkennen, das der Möglichkeit nach Vorhandene. Es geht um die Wahrnehmung eines Bildes und das zur Wirklichkeit Kommen der darin steckenden Möglichkeiten, nicht um 200 Frames. Thomas Plenert will wahrscheinlich überhaupt nicht wissen, wie etwas ausgeht. Wie etwas ausgeht, kann auch wirklich niemand sagen. Man kann aber aus den Bildern herausholen, was in den Bildern angelegt ist. Thomas Plenert erkennt beim Dokumentarfilmen das der Möglichkeit nach Vorhandene. Er ruht in sich, blinzelt und „führt“ die unvorhersehbaren potentiellen Möglichkeiten “schlafwandlerisch zusammen”*. Keiner Fliege gelingt das! Einer Fliege gelingt das nie. Und das Brummen einer Fliege wird ihn nicht stören. Wenigstens nicht, solange die Kamera läuft. (gh)
* Der Autor dankt Barbara Frankenstein für die schöne Formulierung.
„Für Thomas Plenert ist die Kamera kein Instrument, sondern ein Organ, ein lebenswichtiges. Wie sollte man sonst seine Unleidlichkeit erklären, wenn mal kein Dreh in Aussicht ist. Wie sollte man sonst erklären, wie vertrauensvoll die Menschen sich diesem Kameramann hingeben für das Bild, das er von Ihnen macht. (…) Tommys Humor und sein nicht enden wollendes Lachen sind überwältigend. Ich erinnere mich an einen Morgen an der Oder, als wir auf den magischen Moment warteten, um Tausende von der Wasseroberfläche startende Gänse zu drehen. Just in dem Augenblick fielen ihm die vergeblichen Verführungskünste einer Ukrainerin aus dem Quartier ein, in dem wir die Nacht verbrachten, das gleichzeitig ein Bordell war. Mit laufender Kamera im Arm zu lachen und dennoch ein bleibendes Bild zu machen, wer kann das schon. Nur einer, für den die Kamera kein Instrument, sondern ein Organ, das gleichsam Herzschlag und Seele ist.“ (Helke Misselwitz, Laudatio für Thomas Plenert, Preis der DEFA-Stiftung zur Förderung der Filmkunst, 2008)