HÖCHS­TE EISEN­BAHN! Fil­me, Züge, Haltstationen

Im Schat­ten der Glei­se, zwi­schen rau­chen­den Loko­mo­ti­ven und dem Stim­men­ge­wirr auf Bahn­stei­gen, schlägt ein Herz, das seit den Anfän­gen des Kinos unauf­hör­lich pul­siert: Die Eisenbahn.

Frü­her

Die Sze­ne von der Ein­fahrt eines Zuges auf dem Bahn­hof in La Cio­tat, gefilmt 1895 von Kame­ra­män­nern der Brü­der Lumiè­re, stand mehr oder weni­ger am Anfang von Film und Kino. Und gleich mit die­sem frü­hen Sujet, so könn­te man zwar wag­hal­sig aber auch mit eini­ger Berech­ti­gung argu­men­tie­ren, hat­te sich das Medi­um dar­an gemacht, ein neu­es Bild­re­gime zu inthro­ni­sie­ren: die Tie­fe in einem Bild­raum war nicht mehr zen­tral oder sta­bil zur Mit­te hin aus­ge­rich­tet (Zen­tral­per­spek­ti­ve), nein sie erschien dyna­mi­siert. Die gra­fi­schen Haupt­li­ni­en durch­kreuz­ten den Bild­raum dia­go­nal und ‚erzeug­ten‘ so Geschwin­dig­keit: gewal­tig glei­tend und vor­wärts­drän­gend. Steam­punk avant la lett­re! Es gehört zum Grün­dungs­my­thos des Kinos, dass die Zuschauer*innen im Grand Café am Pari­ser Bou­le­vard des Capu­ci­nes am 28. Dezem­ber 1895 ent­setzt von ihren Sit­zen auf­ge­sprun­gen sein sol­len, um sich in Sicher­heit zu brin­gen – denn wer hät­te wirk­lich sicher sein kön­nen, dass solch Unge­tüm von Dampf­lok wie vor­ge­se­hen auf der Lein­wand ver­blei­ben und am Ende nicht doch unkon­trol­liert im Audi­to­ri­um lan­den würde.

Inzwi­schen

Bahn­hö­fe sind zu gesichts­lo­sen „Mobi­li­täts­hubs“ ver­kom­men, durch die sich rast­los Eilen­de müde, auf­ge­regt oder schlecht gelaunt anein­an­der vor­bei drän­geln. Dabei waren sie ein­mal etwas gan­ze Ande­res: Sehn­suchts- und Schick­sal­sor­te, Schau­plät­ze für Abschie­de und Ankünf­te, für ver­pass­te Züge und uner­war­te­te Begeg­nun­gen. Außer­dem Sym­bo­le eines gro­ßen kol­lek­ti­ven Wol­lens oder, wie der Archi­tek­tur­kri­ti­ker Han­no Rau­ter­berg vor ziem­lich genau einem Jahr in der Zeit (Nr.42/2024) dia­gnos­ti­zier­te, Aus­druck des ent­schie­de­nen Wil­lens, die eige­ne Selbst­lo­sig­keit zu rüh­men. Zwar ver­dank­ten sich Bahn­hö­fe, Brü­cken, Was­ser­tür­me einem ratio­nal gesinn­ten Erfin­der­geist, aber nie­mand ver­stand sie bloß als Zweck­bau­ten, kalt und gemüts­arm. Infra­struk­tur hieß For­men­rausch, hieß Erzähl­freu­de. Bahn­hö­fe soll­ten wie Kathe­dra­len aus­se­hen oder wie Bur­gen, und selbst Klo­häus­chen bau­te man mit­un­ter als klei­ne Renais­sance­pa­läs­te. Denn Infra­struk­tur bedeu­te­te Stolz: Hier fei­er­te sich ein gesell­schaft­li­cher Über­schwang. Und obwohl man dafür oft auf his­to­ri­sche Sti­le zurück­griff, sprach dar­aus doch die Gewiss­heit, in den For­men der gro­ßen Geschich­te eine noch grö­ße­re Zukunft erbli­cken zu kön­nen. Tech­nik war Schön­heit, und die Schön­heit soll­te unge­ahn­te Kräf­te wecken.

Einer der Fil­me, in denen die­se Ver­gan­gen­heit in ihrem gan­zen Kon­flikt­reich­tum gut zu beob­ach­ten ist, heißt Bāb al-adīd, oder wie der deut­sche Titel des Films von Yous­sef Cha­hi­ne 1958 lau­te­te: Tat­ort … Haupt­bahn­hof Kai­ro. Der Regis­seur Cha­hi­ne spiel­te dar­in selbst den kör­per­lich behin­der­ten Zei­tungs­ver­käu­fer Qina­wi, des­sen uner­füll­te Lie­be zu einer Geträn­ke­ver­käu­fe­rin in einer Tra­gö­die mün­det. Der Bahn­hof der ara­bi­schen Metro­po­le als sozia­les Labor: Zwi­schen den Glei­sen kreu­zen sich die Schick­sa­le von Arbei­tern, Händ­lern und Mon­dä­nen. Cha­hi­ne zeich­net mit veris­ti­scher Prä­zi­si­on ein Por­trät einer Gesell­schaft im Umbruch, in der sich Tra­di­ti­on und Moder­ne, Armut und Hoff­nung begegnen.

Mit Bāb al-adīd eröff­nen wir unse­re klei­ne Rei­he mit Fil­men über Eisen­bah­nen und Bahnhöfe.

Spä­ter

Die Eisen­bahn, lan­ge Zeit Trieb­kraft für gesell­schaft­li­che und kul­tu­rel­le Umwäl­zun­gen, wur­de auch zum Motor vie­ler Kino­er­zäh­lun­gen. Ihr Rhyth­mus, das mono­to­ne Rat­tern auf den Schie­nen, gab dem Lauf der Din­ge eine unauf­halt­sa­me Rich­tung; sie erzeug­te die Span­nung zwi­schen erwar­te­tem Ziel und unge­wis­sem Aus­gang. Gera­de­zu eine Büh­ne, auf der Geschich­ten eupho­risch nach vorn streb­ten und/​oder dra­ma­tisch not­ge­bremst wurden.

Die Eisen­bahn­rei­se ist Sinn­bild für Über­gän­ge, für das Ver­las­sen von Bekann­tem und den Ein­tritt ins Ande­re – und wenn’s nur eine ande­re Spur­brei­te ist. Am Grenz­bahn­hof Brest an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze, wo die euro­päi­sche Nor­mal­spur auf die rus­si­sche Breit­spur trifft, müs­sen nicht nur Rei­sen­de und Waren umstei­gen – hier pral­len auch poli­ti­sche Sys­te­me und Welt­an­schau­un­gen auf­ein­an­der. Gert Kro­s­kes Vokzal-Bahn­hof Brest (1993/94) zeigt den tech­ni­schen Pro­zess des Umspu­rens in sei­ner gan­zen – d.h. mensch­li­chen, poli­ti­schen, his­to­ri­schen und kul­tu­rel­len – Kom­ple­xi­tät. Kro­s­kes ruhi­ge Kame­ra beob­ach­tet die Ritua­le des Grenz­ver­kehrs und die Men­schen, denen die täg­li­che Über­win­dung die­ser unsicht­ba­ren Linie in Fleisch und Blut über­ge­gan­gen ist.

Jetzt und weiter

Kino und Eisen­bahn kamen in die Welt als Geschwis­ter im Geis­te der Moder­ne. Bei­de ent­stan­den im 19. Jahr­hun­dert, bei­de revo­lu­tio­nier­ten die Wahr­neh­mung von Zeit und Raum, ja indus­tria­li­sier­ten sie. Die Eisen­bahn brach­te die Welt in Bewe­gung – das Kino (über)setzte die­se Bewe­gung in Bilder.

Unse­re klei­ne Rei­he wid­met sich Arbei­ten aus unter­schied­li­chen Regio­nen und Deka­den. In Fil­men, die dem Kos­mos der Schie­ne gewid­met sind, ist die­ser Kos­mos mehr als nur belie­bi­ger Hin­ter­grund – er ‚pro­du­ziert sich‘ viel­mehr als Aus­druck einer Zeit, einer Hal­tung, eines bestimm­ten Mind­sets. „There’s more to the pic­tu­re than meets the eye“ sang Neil Young 1979. – Ralph Eue

zum Film­pro­gramm:

Sonn­tag, 12. Okto­ber um 17 Uhr

Bab el hadid (Cai­ro Sta­ti­on), OmeU 35mm

Retro­spek­ti­ve – Eröff­nung mit einer Ein­füh­rung von Micha­el Baute

VOR­FILM: L’ar­ri­vée d’un train en gare de la Cio­tat, stumm, 35mm

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Mitt­woch, 22. Okto­ber um 20 Uhr 

Вокзал – Bahn­hof Brest, OmdU

in Anwe­sen­heit des Regis­seurs Gerd Kroske

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Trains (Pocią­gi), ohne Dialog

ab 02. Okto­ber regu­lär im Pro­gramm, sie­he Spielplan

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Fort­set­zung im November