25.–31.08.2022
Als Ulrike Ottinger im Sommer 2000 für ihr neues Projekt Richtung Südosteuropa aufbrach, sah die Welt vollkommen anders aus. Der Zusammenbruch der Sowjetunion lag noch nicht weit zurück, die EU-Osterweiterung war noch Zukunftsmusik. Ihre „Reise zu den neuen weißen Flecken auf der Landkarte Europas“ führte Ulrike Ottinger von Berlin über Polen, Tschechien und die Slowakische Republik, über Rumänien und Bulgarien ans Schwarze Meer, dann weiter per Frachtschiff nach Odessa in die Ukraine und von dort aus an der Küste entlang zum südöstlichsten Punkt, nach Istanbul.
Die zerbrochenen Wirtschaftsstrukturen, die extreme Armut, die Korruption und die Kriminalität ließen diese Randregion Europas damals noch ferner und fremder denn je wirken. Es schien, als hätten die politischen Umwälzungen der letzten Dekade sie noch weiter nach Osten abdriften lassen. Selbst die noch aus vergangenen Zeiten bestehende Infrastruktur schien langsam aber unaufhaltsam dem Untergang geweiht. So notierte die Autorin über den Seehandel in Odessa: „Der ukrainische Handel über das Schwarze Meer nach Bulgarien und Südwesteuropa ist fast ganz zum Erliegen gekommen. In den letzten Jahren ist die Handelsflotte von 380 auf 20 Frachter dezimiert worden. Die Schiffe wurden vorwiegend von griechischen und amerikanischen Reedereien aufgekauft und befahren jetzt verstärkt die Strecke Odessa-Istanbul. Der Fährhandel zwischen Odessa und dem bulgarischen Varna, der noch vor acht Jahren im 8‑Stundentakt rund um die Uhr ging, ist heute auf vier Frachter reduziert, die nur noch alle ein, zwei Wochen genug Ladung für eine Fahrt haben. Die Passage Odessa-Istanbul hingegen ist der neue Weg in den Westen über den Osten.“ (K.Sykora und U.Ottinger, zitiert aus: TAZ, 21.12.2000)
Dieser letzte Satz klingt aus heutiger Sicht prophetisch. Und lässt gleichzeitig aufhorchen. Denn er entspringt nicht der Berichterstattung aus den letzten Wochen, in denen alle Hoffnungen auf eine Überwindung des Getreide-Embargo der Ukraine, auf die Passage Odessa-Istanbul gerichtet waren, sondern einem 22 Jahre alten Reisebericht. Dass die Ukraine seit dem 24. Februar in der kollektiven Wahrnehmung kein weißer Fleck auf der Landkarte mehr ist, sondern ein fester Bestandteil Europas, verdankt das Land paradoxerweise dem grausamen Überfall Russlands, der sowohl ihre territoriale Integrität als auch ihre kulturelle Identität vernichten will. Doch das heißt nicht automatisch, dass die ehemals exotische Unbekannte uns wirklich in allen Facetten vertrauter geworden wäre. (df)