7 Fil­me aus der Provinz

LAND AM WASSER – DYBUK. RZECZ O WĘDRÓWCE DUSZ – БЕЛЫЕ НОЧИ ПОЧТАЛЬОНА АЛЕКСЕЯ ТРЯПИЦЫНА –
ПРОВИНЦИАЛЬНАЯ ЖИЗНЬ – ЮРЬЕВ ДЕНЬ – ТАНЯ 5АЯ – HUNGRY MAN

Leseprobe aus: Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland, Jochen Schmidt

Als ich mich am nächs­ten Tag ins Auto set­zen will, ent­de­cke ich unter dem Schei­ben­wi­scher einen Zet­tel in einem Plas­te­tüt­chen, das ihn vor dem Regen schützt. Ich hät­te falsch geparkt, dies sei aber nur ein Hin­weis, ein Ver­warn­geld­an­ge­bot wer­de mir dem­nächst schrift­lich zuge­hen. Ich hat­te kein Park­ver­bots­schild gese­hen, die Auf­for­de­rung: „WÄHLT THÄL­MANN!“ hat­te mich abge­lenkt. Ein zwei­ter Zet­tel, aus einem Ring­block geris­sen, klemmt hin­ter dem Schei­ben­wi­scher: „Wer­ter Auto­be­sit­zer. Das pas­siert halt, wenn man falsch parkt wie Sie. Ich habe beim rück­wärts aus­par­ken ihr Auto leicht tuschiert. Rechts vorn Glas­bruch. Bit­te mel­den Sie sich bei mir, wenn wir das bespre­chen müs­sen. MfG Mar­ti­na W.“

Ich stei­ge noch ein­mal aus und gucke mir die Schein­wer­fer an, einer hat ein Loch und Ris­se. Ich habe das Auto nur geborgt und weiß nicht, ob man so fah­ren darf. In Bul­ga­ri­en habe ich erlebt, dass auf das Blin­ken ganz ver­zich­tet wur­de, damit die Blin­ker­lam­pe län­ger hielt. Und immer wie­der kamen einem Motor­rä­der ent­ge­gen, die sich als Autos mit einem kaput­ten Schein­wer­fer ent­pupp­ten. Der per­fek­te Zustand, den wir in Deutsch­land von unse­ren Autos ver­lan­gen, scheint mir eigent­lich über­trie­ben. Es ist ja nur Sach­scha­den. Es hät­te schlim­mer kom­men kön­nen: „Wer­ter Auto­be­sit­zer. Das pas­siert halt, wenn man falsch parkt wie Sie. Mein Mann ist auf dem Nach­hau­se­weg über ihr Auto gestol­pert und war sofort tot. Bit­te mel­den Sie sich bei mir, wenn wir das bespre­chen müs­sen. MfG Mar­ti­na W.“

Ich fah­re durch Königs­hu­fen, die Sechs­ge­schos­ser sind teil­wei­se auf zwei und drei Eta­gen rück­ge­baut wor­den, was mir selt­sam ampu­tiert vor­kommt. Dann geht es an der Nei­ße ent­lang über die Dör­fer, herr­li­che Bau­ern­häu­ser, man müss­te nur das Geld haben, eines instand zu set­zen. Ich habe schon wie­der Hun­ger; je wei­ter ich nach Osten kom­me, umso mehr Lust bekom­me ich auf Fleisch, außer­dem wächst mein Bart irgend­wie schnel­ler. Die Stra­ße führt durch ein Wald­ge­biet, links und rechts ste­hen hun­der­te Baum­häu­ser, jemand muss hier seit Jah­ren den Wald in einen Spiel­platz ver­wan­deln. Auf Baum­stäm­men sind Autos auf­ge­spießt wor­den, viel­leicht ist hier auch ein Ver­bre­chen an Ver­kehrs­teil­neh­mern gesche­hen und alle den­ken, es hand­le sich um Hip­pie-Kunst. In den Vor­gär­ten der Ort­schaf­ten hän­gen Transparente:

FRACKING IST MORD DIE UMWELT IST TOT!
ROH­STOF­FE KANN MAN NICHT ESSEN!
SAGT NEIN ZUR KUP­FER­BOH­RUNG!
VOGEL­GE­SÄN­GE STATT BOHRGESTÄNGE!

Ich hät­te schon längst eine Samm­lung von sol­chen empör­ten Ver­laut­ba­run­gen anle­gen sol­len, denn das ist eine ganz eige­ne Kom­mu­ni­ka­ti­ons­form: Immer, wenn jeman­dem etwas nicht passt, teilt er das in Deutsch­land den durch­rei­sen­den Auto­fah­rern mit. Beson­ders absurd:

GÜTER GEHÖ­REN AUF DIE AUTOBAHN!

In der Lau­sitz ist näm­lich der Aus­bau einer Schie­nen-Güter­tras­se geplant, auch gegen Schie­nen­ver­kehr kann man sein, wenn man direkt an der Stre­cke wohnt.

KEIN PUMP­SPEI­CHER­WERK AM BEER­BERG!
KEI­NE SCHWEI­NE­MAST­AN­LA­GE IN OLDIS­LE­BEN!
BAU­BE­GINN DER ORTS­UM­GE­HUNG NEU­ZEL­LE JETZT!
KEI­NE B90 OHNE RAUM­ORD­NUNGS­VER­FAH­REN! „DIE BETROFFENEN“!

Udo hat gesagt, sein Haus in Sor­ge ste­he unge­fähr in der Mit­te des Orts, genau­er woll­te er es nicht machen. Ich hal­te auf gut Glück vor einem Haus und sehe an der Klin­gel sei­nen Namen und den sei­ner ver­stor­be­nen Eltern. Nach ihrem Tod hat er den Schritt gewagt, in die­se Gegend zu zie­hen, in ihr Haus und hier als Lyri­ker zu über­le­ben. Ich fin­de es schön, wenn man so der Fami­lie treu bleibt. In der Zei­tung habe ich von einem Paar aus Oppach bei Baut­zen gele­sen, das die Zeit als Rent­ner dazu nutzt, das Umge­bin­de­haus, in dem der Mann gebo­ren wur­de, denk­mal­ge­recht zu reno­vie­ren. Er hat dabei auf der Rück­sei­te der Bret­ter­ver­klei­dung Inschrif­ten sei­nes Urgroß­va­ters von 1891 gefun­den, der damals das Haus zum ers­ten Mal reno­viert hat. Er schreibt, daß er kei­ne Kopf­schmer­zen mehr habe, denn er habe die Decke um 30 Zen­ti­me­ter gehoben.

Ich bekom­me von Udo zu klei­ne, geblüm­te Pan­tof­feln, denn es ist fuß­kalt, es gibt hier kei­ne Kel­ler, wegen des Grund­was­ser­spie­gels. Gegen­über wohnt eine 84 Jah­re alte Frau, mit der er manch­mal am Gar­ten­zaun spricht. Die Frau­en hier sei­en alle nach dem Krieg ver­ge­wal­tigt wor­den, dar­über muss­te man aber im Osten schwei­gen, auch dass man von der pol­ni­schen Sei­te stamm­te, erzähl­te man nicht im grö­ße­ren Rah­men, bei uns hie­ßen die Ver­trie­be­nen ja auch Umsied­ler. Her­ta ist ope­riert wor­den, sie habe sich gewun­dert, dass sie in ihrem Alter eine neue Herz­klap­pe bekom­men habe, dass sich das loh­ne. Zur Kur muss­te sie nach Bad Schandau, da woll­te sie aber weg, da war Pro­gramm von 6 Uhr bis nachmittags.

Udo wird viel­leicht irgend­wann der Letz­te im Ort sein, einer der jüngs­ten ist er schon. Sei­ne Eltern waren Flücht­lin­ge, ein­mal haben sie den Hof in Polen besucht, von dem der Vater stamm­te. Die Polen, die jetzt dort leb­ten, waren sehr freund­lich und mit­füh­lend, sie waren ja selbst aus einem Gebiet in Ost­po­len ver­trie­ben wor­den, das heu­te in Weiß­russ­land liegt.

Obwohl ich noch nie hier war, ist mir die Gegend ver­traut, und ich füh­le mich sofort hei­misch. Man kann bei jedem Men­schen krat­zen, es kommt immer ein Schick­sal zum Vor­schein.
Udo reicht mir das ört­li­che Anzei­gen­blatt mit einem der vie­len Arti­kel über Wöl­fe, die momen­tan erschei­nen. Das The­ma wird hier sehr emo­tio­nal dis­ku­tiert. Jäger haben auf einer Ver­samm­lung gedroht, ihr Hob­by auf­zu­ge­ben, für das sie schließ­lich bezah­len wür­den. Sie behaup­ten, das Wild las­se sich wegen der Wöl­fe nicht mehr bli­cken. Man kön­ne doch nicht nur eine Art schüt­zen und die ande­ren ver­nach­läs­si­gen. In Wirk­lich­keit wird das Wild mehr durch­mischt, dank der Wöl­fe. Wie Udo sagt: „So ’ne Rot­te Wild­schwei­ne geht im Mai in den Mais rein und kommt bis Sep­tem­ber nicht mehr raus. Da kann der Jäger ansit­zen wie er will.“

Wovor hat man Angst? Der Wolf aus den Mär­chen? Oder geht das noch tie­fer bei uns, ver­dräng­te Trie­be, Mon­go­len­sturm, Asi­en? Ende der 90er wur­den die ers­ten Wöl­fe in Bran­den­burg gesich­tet, kamen sie über die Oder? Der berühm­tes­te hat­te nur drei Bei­ne, weil er sich das vier­te abge­bis­sen hat­te, um sich aus einer Fal­le zu befrei­en. Eine Bran­den­bur­ger Schä­fer­hün­din ver­lieb­te sich in den unwi­der­steh­li­chen Kerl, der jede Nacht vor dem Dorf auf sie war­te­te. Er leg­te ihr die Pfo­te auf den Rücken und hät­te sie gern mit­ge­nom­men, aber sie war zu gut erzo­gen. Woher kom­men die Wöl­fe? Sind sie aus Tier­parks aus­ge­bro­chen? Sind sie hier aus­ge­setzt wor­den? Rus­si­sche Mili­tär­ein­hei­ten haben sich angeb­lich Wöl­fe als Haus­tie­re gehal­ten, haben sie wel­che zurück­ge­las­sen? Wie kann eine Hün­din noch einen nor­ma­len Hund wol­len, wenn sie einen Wolf wit­tert, der ums Dorf schleicht?

Wir spre­chen über Udos Armee­zeit. Er zeigt mir ein Foto vom schma­len jun­gen Mann mit lan­gen Haa­ren, der er damals war. Die selt­sa­men Erfah­run­gen mit den Rus­sen. Bei uns wur­de ja jede Patro­ne pein­lich genau abge­zählt, wenn man beim Wach­wech­sel ab- und auf­mu­ni­tio­nier­te, die Rus­sen hiel­ten ein­fach ihren Helm hin und der wur­de voll­ge­schüt­tet mit Mum­peln. Hier im Ort ist mal eine Kolon­ne Rus­sen aus dem Wald auf die Dorf­stra­ße ein­ge­bo­gen, ein über­mü­de­ter Fah­rer fuhr ihren Zaun kaputt. Aus dem ers­ten Fahr­zeug sprang ein Offi­zier, rann­te zum Fah­rer und schlug ihm ins Gesicht. Spä­ter kamen zwei Rus­sen mit Holz und repa­rier­ten den Zaun tadel­los. Manch­mal ver­ga­ßen sie ihre eige­nen Stra­ßen­pos­ten, die einer LKW-Kolon­ne den Weg wei­sen soll­ten; tage­lang wag­ten die sich nicht vom Fleck, die Anwoh­ner brach­ten den armen Ker­len Ver­pfle­gung. Wenn er für die Gren­ze gemus­tert wor­den wäre, wäre Udo Bau­sol­dat gewor­den, da er der Mei­nung war, wer gehen woll­te, hät­te schon sei­ne Grün­de, und er wür­de nicht auf ihn schie­ßen. Das Gesetz­blatt über Bau­sol­da­ten hat­te er sich müh­sam besorgt, ein befreun­de­ter Christ hat­te es für ihn abge­schrie­ben. Das gab es damals nur unter der Hand. Es war nicht erwünscht, dass die jun­gen DDR-Män­ner die Geset­ze ihres eige­nen Lan­des kann­ten. Er hat es dann geschafft, als Ein­zi­ger vom drit­ten Dienst­halb­jahr nicht beför­dert zu wer­den, wegen eines Wach­ver­ge­hens. Trotz­dem hat­te er ein gol­de­nes E‑Koppel und ein E‑Käppi, bei denen konn­te man die Sei­ten run­ter­klap­pen und sie wur­den immer wei­ter­ge­reicht von Genera­ti­on zu Genera­ti­on. Am Tag des letz­ten Som­mer­be­fehls, wenn die „Bären­fot­ze“ genann­te Schap­ka, für immer ein­ge­packt wur­de, gab es auf dem Flur ein aus­ge­las­se­nes Befo-Tre­ten, alle tram­pel­ten auf den Müt­zen her­um und schos­sen sie durch die Gegend. Der gan­ze Armee­dienst war ein ein­zi­ges Abha­ken sol­cher Ritua­le, die die Zeit ver­kür­zen soll­ten. Sie haben sich ein­mal beim Vor­ge­setz­ten beschwert, dass sie nicht fern­se­hen durf­ten, dar­auf­hin muss­ten sie jeden Abend das „Sand­männ­chen“ gucken. Das erzählt sich immer sehr lus­tig, aber die NVA-Zeit war furcht­bar, weil das Sys­tem dar­auf ange­legt war, die schlech­tes­ten Eigen­schaf­ten der jun­gen Män­ner zu för­dern und Sadis­ten mit Macht­ge­winn zu belohnen.

Ist es wirk­lich ein­sam hier im Dorf? War­um denkt man das als Städ­ter? Es gibt ja das Inter­net, man kann in Sekun­den­schnel­le mit sei­nen Kin­dern in Kana­da kom­mu­ni­zie­ren. Da Udo sich kein Auto leis­ten kann, fährt er die 6 Kilo­me­ter zum Bedarfs­halt der Regio­nal­bahn immer mit dem Fahr­rad, so kommt er von hier weg. Dafür kann er jeden Tag auf Wald­bo­den jog­gen, er war ja frü­her im Braun­koh­le­kraft­werk Betriebs­sport­ler. Der dreibei­ni­ge Wolf habe, als man ihn abhol­te und in den Tier­park Ebers­wal­de brach­te, ver­sucht die Git­ter­stä­be durch­zu­bei­ßen, bis ihm Tier­schüt­zer ein grö­ße­res Frei­ge­he­ge beschaff­ten. Die Schä­fer­hün­din hat von ihm Jun­ge bekom­men, sie hat ihn aber nie wie­der­ge­se­hen. Ihre Besit­ze­rin ist Rus­sin, sie kann­te es noch aus ihrem sibi­ri­schen Dorf, dass sich Bau­ern Wöl­fe als Hof­hun­de hielten.

Udo legt im Küchen­herd Koh­len nach und kocht uns auf der Flam­me, die wie frü­her mit ver­schie­den gro­ßen Metall­rin­gen regu­liert wird, Spa­ghet­ti. Er zeigt mir Din­ge, die nach dem Krieg aus altem Kriegs­ge­rät gebaut wur­den und die immer noch benutzt wer­den, er sam­melt so etwas. Eine mit Blüm­chen bemal­te, glä­ser­ne Pud­ding­form war ursprüng­lich eine Glas­mi­ne. Ein Bud­del­sieb wur­de aus einem Gas­mas­ken­fil­ter her­ge­stellt. Ein Küchen­sieb aus einem Wehr­machts­helm. Milch­ka­nis­ter aus Kar­tu­schen. Die Erde ist hier immer noch vol­ler Eisen. Nach der Wen­de tauch­ten aus dem Wes­ten Schatz­grä­ber auf, die sich von Bau­ern Infor­ma­tio­nen hol­ten, wo Sol­da­ten ver­scharrt lagen. Wenn man sich aus­kennt, sieht man das aber auch an der Vegetation.

Nachts kann ich nicht schla­fen, die letz­ten Schlu­cke vom Gyul­o­va Raki­ya aus Schwe­rin sind mir zu Kopf gestie­gen. Es ist Voll­mond, die Mar­der rut­schen vom Dach und zie­hen dabei ihre Kral­len über die Zie­gel, es klingt, als wür­den Dach­zie­gel run­ter­fal­len. Udos Bett ist leer, ich gehe raus. Das selt­sa­me Mond­licht, genau wie am Hafen von Saß­nitz, man erkennt alles, am Him­mel sind so vie­le Ster­ne, wie ich sie noch nie gese­hen habe. Man müss­te alle Ver­bin­dun­gen kap­pen, nie wie­der zurück­ge­hen in die Stadt. Wie sich das anfühlt, wird man nie erfah­ren, wenn man es nicht tut. Ich gehe ein Stück in den Wald und lau­sche. Über­all raschelt und knackt es, aber Angst habe ich nur vor Men­schen. Viel­leicht sitzt dort einer die­ser belei­dig­ten Jäger? Oder fol­gen mir aus dem Dun­kel zwei glü­hen­de Augen? Ich strei­che mir über den Bart. Was hält mich eigent­lich? Ich muss mir nicht mal ein Bein abbei­ßen. Mit zwei Sät­zen bin ich im Unter­holz ver­schwun­den und lau­fe Sei­te an Sei­te mit mei­nem wil­den Bruder.

Jochen Schmidt