inspiriert von Ruslan Fedotovs Film КУДА МЫ ЕДЕМ / WO GEHT'S HIN?
eine Novelle von Daniel Jurjew
Auf Japanisch heißt die U‑Bahn chikatetsu, wörtlich soviel wie „Unter-der-Erde-Eisen“. Aus der Sicht unserer nicht so entfernten Vorfahren mag es das Gleiche sein, ob ein riesiges Eisengefährt durch die Luft gleitet oder durch die Erde. Beides wäre nicht ohne die Einmischung göttlicher oder dämonischer Kräfte möglich.
Zwei Sicherheitskräfte der Moskauer U‑Bahn, ein Mann und eine Frau, machen Feierabend und fahren zusammen die Rolltreppe hinunter, den Zugang zu welcher sie vorher bewacht haben.
Die Frau nimmt ihre Dienstmütze ab und öffnet ihre vollen, lockigen Haare. „Was für ein Tag. Und das gleich nach dem Urlaub.“
„Warst du irgendwo?“
„Ja, Serbien.“
„Serbien? Da gibt es doch lauter alte Klöster und Kirchen.“
„Sie haben im Zentrum Belgrads einen Riesenklotz von Kathedrale hingestellt, dem Hl. Sava gewidmet. Als wäre ich nirgendwo hingereist: Die sieht von innen so aus wie unsere U‑Bahnstationen aus der Stalinzeit. Gold, Mosaike, viele Lichter, Reliefs. Nur sind das bei uns Bauern und Arbeiter, und bei denen Engel und was weiß ich, Jesus, Maria. Alles glänzt und funkelt, bunt wie zwölf Pfauen. Als wäre ich dort schon wieder auf Arbeit. Ansonsten war es schön und lustig. Wie son Kusturica-Film.“
„Was für ein Zufall: Gerade, als du in Belgrad warst, hatten wir hier einen Typen, der versucht hat, ne Knarre durch die Gepäckkontrolle zu schmuggeln. Er hat gemeint, er wolle die U‑Bahn entführen, um nach Belgrad zu kommen. Völlig plemplem. Ich frage mich, was die Polizei dann mit ihm gemacht hat. Aber stell dir mal vor, unter deiner Kathedrale in Belgrad ist tatsächlich eine U‑Bahnstation.“
„Eine geheime U‑Bahnlinie von Moskau bis nach Belgrad? Das würde zumindest erklären, wieso welche von uns soviel Geld da reingesteckt haben. Da steht überall was von Gazprom und so. Das würde allerdings scheißlange dauern. Und irgendwo müssten ja die Leute aufs Klo.“
„Um die Nato zu ärgern, tun unsre Leute doch alles.“
„Wieso denn jetzt Nato?“
„Na, falls keine Flüge nach Belgrad gehen.“
„Wieso denn jetzt keine Flüge?“
„Na wegen der Nato, sag ich doch.“
„Wieso?“
So geht es noch ein Weile weiter, dann, schon im Waggon sitzend, nicken beide ein.
„Du, Stjopa, muss ich einschlafen, um zum Hl. Sava zu kommen?“, fragt einer von zwei mäßig gepflegt wirkenden Männern den anderen, kurz nachdem sie in die kaum gefüllte U‑Bahn gestiegen sind und sich mit ihren Reisetaschen in einiger Entfernung von den Sicherheitskräften hingesetzt haben. Die Reisetaschen sind nach Mode des vorigen Jahrhunderts übersät mit Aufklebern von allerlei Städten: Paris, Tokio, Rio de Janeiro, Bielefeld …
„Nee, Wladik, aber es hilft. Sonst musst du dir die Phasenverschiebung ganz doll vorstellen, und das ist superanstrengend.“
„Uff. Na hoffen wir mal, dass ich müde genug bin, um bis zum Friedensprospekt einzuratzen.“
„Ich bin müde genug. Wenn mich ein gewisser Jemand nicht mit Konversation aufmuntert, schaffe ich’s auf jeden Fall.“
„Ok, Stjopa, sorry, ich bin still. Bis gleich in Belgrad.“
Kurz nacheinander schließen beide Männer ihre Augen.
Ein Mädchen und ein Junge, beide etwa 12 Jahre alt, sitzen den Sicherheitskräften gegenüber und erzählen einander Schauergeschichten. Das Mädchen ist an der Reihe:
„Und wenn du in der U‑Bahn einschläfst, fährt sie durch ein schwarzes, schwarzes Loch in das schwarze, schwarze Depot. Vor den U‑Bahntüren hängen dort schwarze, schwarze Gardinen. Wenn die Türen aufgehen, erwürgen dich die schwarzen, schwarzen Gardinen. Und dann kommen schwarze, schwarze Ratten und tragen deine Knochen zu einer schwarzen, schwarzen Schlucht. Dort bauen sie aus den Knochen der Passagiere eine Brücke nach Rio.“
„Ist ja blöd, ich will nicht nach Rio, ich will nach Kopenhagen.“
„Wieso denn jetzt Kopenhagen?“
„Es gibt einen alten sowjetischen Witz, den hat Dmitrij Alexejewitsch im Club erzählt, als du nicht da warst: Kommt ein Mann mit Knarre in die Fahrerkabine der Moskauer U‑Bahn und schreit: ‚Ich muss nach Kopenhagen, schnell!‘
‚Aber wie stellen Sie sich das vor, die U‑Bahn läuft auf Schienen, und außerdem, wo soll ich denn einen Tunnel nach Dänemark hernehmen?‘, antwortet der Fahrer.
Der Mann drückt dem Fahrer die Knarre an die Schläfe: ‚Hab ich gesagt, dass ich hier mit dir diskutieren will?‘
‚Gut, verstanden.‘ Der Fahrer schaltet sein Mikro an und macht eine Durchsage: ‚Nächster Halt: Kopenhagen.‘“
„Überhaupt nicht lustig, der Witz. Fast so lahm wie die Englischstunde heute. Weck mich, wenn wir da sind.“
Der Junge stellt sich in seinem Smartphone einen Wecker und schließt ebenfalls die Augen.
Wladik aber scheint nicht einschlafen zu können: „Du, Stjopa?“
„Mhm?“
„Ob die Serben immer noch so verrückt nach unserem russischen Spielzeug sind?“
„Naja, es geht. Die Brasilianer waren noch enthusiastischer, aber die Linie nach Rio wurde eingestellt.“
„Wie, da haben sie sich den Aufwand gemacht, den Tunnel bis nach Rio zu bauen, und dann einfach die Linie eingestellt?“
„Ach, weißt du, Wladik, ich frage mich, wieso es die Linie nach Belgrad überhaupt noch gibt. Es macht doch keiner was mit diesen streng geheimen U‑Bahnverbindungen.“
„Bei denen weiß halt die linke Hand nicht, was die rechte tut.“
„Ist besser so. Sonst könnten wir nicht so einfach nach Belgrad reisen. Und jetzt lass mich schlafen.“
Unterdessen ist eine Frau mit Bolzensetzer in die Fahrerkabine eingedrungen: „So, mein Lieber, jetzt fahr mich mal schön nach Belgrad.“
„Wie bitte?“
„Nach Belgrad. Komm schon, du willst es doch auch.“
„Willst du nicht lieber nach Rio?“
Die Frau setzt einen Bolzen direkt in die Rückenlehne des Fahrers. „Verarsch mich nicht. Los jetzt.“
Der Fahrer seufzt und macht eine Durchsage. „Sehr geehrte Fahrgäste, wir halten außerplanmäßig in Belgrad. Bitte bewahren Sie Ruhe, nach kurzem Aufenthalt geht es weiter zum Friedensprospekt.“
In wenigen Minuten steigt die Frau in den Katakomben des Hl. Sava aus. Stjopa und Wladik folgen ihr. Die Sicherheitskräfte und die Kinder blicken ihnen aus dem Waggon nach.
„Schon wieder Sowjetunion“, sagt die Sicherheitsfrau.
Der Mann schaut sie verwundert an.
„Na, dass die Leute so sehr weg wollen, dass sie selbst U‑Bahnen entführen. Ich bleibe sitzen. Ich habe diese U‑Bahnkirche schon zu Genüge gesehen.“
Der Mann kratzt sich am Hinterkopf. „Ich wäre auch ausgestiegen, aber ich muss den Klempner reinlassen, bei mir tropft es schon seit Wochen.“
Der Junge erklärt: „Wir beide, wir fahren zum Club der Jungen Poeten. Wir können nicht so einfach in Belgrad bummeln gehen.“
Die vier schließen wieder ihre Augen.
„Sehr geehrte Fahrgäste, bitten entschuldigen Sie die erneute Verzögerung, wir sind aus Versehen in Kopenhagen gelandet. Bitte konzentrieren Sie sich auf Ihren Wunsch, nach Moskau zurückzukehren, dann geht es schnell weiter.“ Der Fahrer schaltet das Mikro aus und fasst an den Bolzen in seinem Stuhl. „Scheißinterferenzen.“