Peter Wawerzinek über Anderson
Essay anlässlich des Films «Anderson» von Annekatrin Hendel
Oh, Mann, ist das alles lange her. Aber es brennt noch in meiner Brust. Ob ich es wahr haben will oder verdränge. Die Berliner Szene gab es. Die Berliner Szene war da und extrem übersichtlich. Alles so schön handverlesen. Wie als wollten sie es dem Sicherheitsdienst extra leicht machen. Was da geheim war, zwitscherten die Regenbogenpressepfeifer vor den Spatzen munter vom Dach herunter. Was bitte sehr sollte denn in Berlin, wo man sich politisch als Anti profilieren wollte und auch verfolgt sein mochte, geheim sein? Es ging doch gar nichts mit Geheimniskrämerei anzukurbeln. Die andere Seite musste doch immer Wind bekommen und angefixt werden. Gegnerschaft verlangte doch Positionierung. Hier der doofe Staat, dort die hyperaktiven Dissidenten und ihre vielen unterschiedlichen Freiheitsvorschläge.
Es gab halt nur zwei Orte für Wohnungslesungen. Niemand wollte es kompliziert und unüberschaubar werden lassen. Das Freiheitsbedürfnis war wie beim Toilettengang kanalisiert, in Männlein, Weiblein unterteilt. Man konnte da gar nichts Unrechtes tun, sich verlaufen oder falsch liegen. Man musste sich entscheiden, ob nun bei Ekke Maaß oder Gerd Poppe vorbeigeschaut wird.
Was die Wohnungslesungen bei den beiden Protagonisten etwas unangenehm machte, waren eben die Bürgerrechtler mit ihrer Konspiration, nicht Inspiration. Alles war Konspiration. Selbst die Zierfische im Aquarium bei Poppe unterlagen der Konspiration. Ich erinnere mich an meinen Osteekumpel Wespe. He, dem hatte ich eine Wohnung schwarz in meinem Haus Raumerstrasse 41 besorgt. Einfaches Ding damals. Einen Tisch, einen Stuhl, eine Matratze und vielleicht einen kleinen Kühlschrank in der Bude gestellt, fertig war der schwarze Wohnzustand. Und dann ab zum Amt mit Räucheraal oder Westkaffee, fünfhundert Mark Strafe bezahlt, zack. Und schon war jener Wespe ein beglaubigter Berliner Wohnungsinhaber. Okay.
Jedenfalls frage ich den Neuberliner eines Tages, was denn so anliegt in meinem Stadtbezirk? Und der Kerl sagt doch glattweg: Nix weiter. Und weil es immer anders kommt und auch keine Zufälle gibt, rennt mir am Abend Adolf Endler, der Szeneautor im Prenzlauer Berg schlechthin, vor die Füsse. Wohin denn so flink, rufe ich dem Eilenden nach. Zu Poppe, Hauslesung! Komm doch einfach mit. Gesagt, getan.
Es war so herrlich einfach mit einem Typen wie diesen Endler die Barrieren zu durchhuschen. Ein Freund des Autor, aber Hallo, tritt nur zügig ein, junger Freund. Und wie ich so in die gute Stube komme, wen sehe ich da unter den siebzig Gästen quasselnd am Boden sitzen? Meinen, von der Konspiration völlig in Besitz genommenen Ostseekumpel Wespe, den (das darf ich nicht verschweigen) Literatur nun wirklich herzlich am wenigstens juckte, damals. Und ich glaube das ist heute noch so. Der wollte immer viel, viel lieber Bürgerrechtler sein. So mit Schwerter auf Fliegenklatsche umschmieden und diesem Dichter Reiner Kunze folgen, der solchen immensen Unfug wie: Treten Sie ein, legen Sie Ihre Traurigkeit ab, hier dürfen Sie schweigen, schrieb. Ich werde niemals nur in so einer konspirativen Bude hocken, schweigen und irgendeinen Gesundheitstee sabbern, nie! Bei mir darf es laut sein. Bei mir darf man alles Unerhörte mehrfach ausgeplaudern. Ich mochte diese Konspiration einfach nicht. Sie macht die Leute so furchtbar schlapp und irgendwie ängstlich bis hysterisch, irgendwie eisern esoterisch.
Ich stehe vor Wespe und der liegt am Boden wie am Ostseestrand auch, und sagt von unten her zu mir herauf was von: He, hättest doch sagen können, dass du genauso gut Bescheid weißt, dann wären wir schön gemeinsam hier aufgetaucht.
Ich meine, dieses unsportliche Verhalten der Leute, die sich freiwillig in die Konspiration begeben haben, kam von der Konspiration selbst über sie. Die Konspiration hatte sie alle fest im Griff gehabt. Wer sich ihr nicht unterwarf, war raus, kam nicht in Frage für das Bürgerrechtlertum und wurde nicht in die Freiheitsgruppe aufgenommen. Ich empfand die konspirativen Leute seltsam. Sie wollten Freiheit und machten einen auf Verschwiegen. Die waren alle durch die Bank so gerne kleine Geheimnisträger, viel lieber als dass sie offene Typen und geradeheraus auf Teufelkommhervor wären.
Nun ja, das nervte mich schon sehr. Ich wollte Dichtung, Literatur einpfeifen. Und immer wurde ich an der Tür aufgehalten und peinlich befragt: Und wer bist du? Und von wem kommst du? Wer schickt dich? Ich meine, ist das höflich, einen wie mich gleich für Stasi zu halten? Nur weil ich Wolfgang Hilbig oder Elke Erb einmal live erleben wollte? Und aber doch gezwungen war, dort anzutanzen? Weil, wann hat man denn schon eine Wohnungslesung direkt vor der eigenen Haustür? Also wirklich. Und war man dann am Türposten vorbei, wurde man aus hunderten Augen angeguckt, als wäre der Seemannspullover an meinem Leib Tarnung und in Wirklichkeit ein Stasianzug mit Abhörkragen und Fotolinsenknöpfen und der Leberfleck kein Leberfleck am Hals, sondern ein Orden, in die Haut tätowiert.
Ich kam mir immer vor, als hätte ich mir zu unrecht Eintritt verschafft und sollte besser gleich wieder verschwinden. Das machte mir die Wohnungslesungen so unsympathisch. Der reinste Stress, Kinder. So dass ich es bei einigen Versuchen beließ, an mich hielt, da dann auch nicht mehr hinging. Schade war das schon. Denn nun hörten dem Dichter Endler nur noch die Leute zu, die mit dem Zeug von ihm am wenigsten anfangen konnten.
Ich meine, ich wollte Literatur pur erleben und nicht mit den Dissidenten am Aquarium im Hinterzimmer stehen und über freie Kindergärten plappern, oder darüber, was kindertechnisch im Staate DDR getan werden muss, welche Papiere zu unterschreiben sind, damit die Raketen weltweit endlich verschwinden.
Für diese nötigen Anstrengungen gab es doch reichlich Personal. Ich meine, die Dissidentenschar war doch in Berlin deutlich in der Überzahl. Es gab niemals so viel Künstler wie Bürgerrechtler jedweder Art und Größe. Gute Dichter waren rar im Land. Und die paar, die es gab, mussten sich dann von denen anspannen und gebrauchen lassen, die die Literatur nicht so auf der Pfanne hatten. Die wenigen guten Dichter wurden nichts weiter als nur grüne Petersilie auf der kalten Platte der Bürgerwehr.
Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich weiter darüber schreibe. Trotzdem will ich am Thema bleiben! Also, ich sage einmal so: Die zwei, drei, vier Ritter, die sich wohnungslesetechnisch ordentlich ins Zeug warfen, waren landesweit dafür auch bekannt. Was also sollte diese verdammte Konspiration denn bei den Lesungen, die doch alles nur kompliziert gemacht hat und Misstrauen gestreut? Ich meine, Konspiration hat doch bei Lesungen nichts zu suchen. Konspiration ist doch eher was für klemmige Politpersonen, die überall Spione wittern, wo sie ja auch wirklich waren und sind.
Alles so hausgemacht. Alles so übersichtlich. Was die Macher in der Literatur betrifft, so waren die eben nur Sascha Anderson und Lutz Rathenow. Zwei auffallend unterschiedliche Typen. Okay. Der Anderson war selbstverliebt und träumte vom Doppelposten als Spion und brauchte die Lyrik nicht wirklich für sein Leben. Und der Rathenow war eher untalentiert, aber in feste, dissidentische Strukturen eingebunden. Dem Rathenow habe ich auf Anfrage einmal gesagt, dass ich lieber in China veröffentlichen würde, wegen der Milliarde Menschen, von denen ein paar Millionen mich lesen würden, als in einer seiner westlichen Literaturzeitschrift zu erscheinen. Der Westen war absolut nicht mein Sehnsuchtsgebiet. Aachen, was soll ich mit Aachen anfangen? Nein, danke. Ich meinte, man sollte nach Jamaika zu Peter-Paul Zahl gehen und dort schreiben. Ich wäre gern in Kuba wohnhaft geworden. Damals zumindest, war das meinTraum. Was lockten mich Peter Rühmkorf im Hamburger Speckbereich oder diese Frankfurter Mainhatten-Literaten?
Und ich sage mir heute, zum Glück waren die alle so konsequent konspirativ, dass sie Schriftsteller wie mich zuerst als wankelmütige Gesellen ansahen. Mich ächteten sie zudem als einen Schauspieler, der den wilden Literaten nur als private Vorstellung gibt. Die konnten sich Echtheit an mir gar nicht vorstellen. Vorstellen und verstellen, das sind halt zwei zu ähnliche Worte, als dass da die Bürgerrechtler durchblicken. Literatur ist, wenn sie hilfreich sein will edel und gut, schwierig. Ein Bürgerrechtler in der DDR werden, war dagegen doch kinderleicht. Man musste nur irgendeinen Aufkleber an seine Jacke nähen und irgendwelche Parolen bemühen, schon war man der engagierte Antityp. Und weil das so leicht war, war das auch mein Glück. Ja, mein Glück war, dass sie mich als nicht brauchbaren Typen abgestempelt haben. Ich war von Beginn an abgeschrieben. Da genügte ein Blick dieser Bohley. Da musste sich Ralf Hirsch nur am Kinn kratzen, schon wurde ich gemieden, in Ruhe gelassen, nicht weiter mit diesen Friedenspapieren behelligt. Es mag bockig genannt werden, okay. Dann war ich eben bockig. Von mir aus sollten sie alle ab einer bestimmten Zeit schön unter sich bleiben. Sie waren mir allesamt viel zu weit von meiner Kunst und Literatur entfernt, als dass ich mich mit ihnen darüber besprechen konnte.
Dass sie sich dann in meiner Person geirrt haben, mich nie richtig einzuschätzen wussten, war dann aber auch mein Schutz. Man weihte mich in den ganzen Politkram nicht ein. Ich galt den Dissidenten bis zum Fall der Mauer (und lange Zeit danach) als eine hoffnungslos starrsinnig künstlerisch interessiert Randperson.
Adolf Endler als Freund in der Szene gehabt zu haben, war ja auch ein guter, gütiger, gültiger Stempel. Ich hatte immer nur deswegen überall Zutritt, bis das dann auch vorbei und ausgestanden war und Endler mir sagte, er wisse auch nicht, was passiert sei? Nun ja, dann eben nicht mehr Wohnungslesungen und Rudolf-Bahro-Studium mit spitzen Bleistift.
Peter hat sich wohl schlecht benommen. Peter darf nicht mehr kommen. Es ist traurig, aber ich weine deswegen nicht. Ich kann so herzlich wenig zu Anderson sagen. Die paar Begegnungen sind Flugasche. Als ich nach Berlin kam, war Anderson schon da. Ich sah ihn im Wiener Café (kurz WC genannt) umringt von weiblichen Groupies. Er trug die Haare zu kleinen Zöpfen geflochten. Ich fand die Frisur nicht nur mädchenhaft, sondern auch woodstockverspätet getragen. Man sprach, wenn man über Anderson sprach von Underground und dem inneren Zirkel, zu dem man gehören müsse, um dann zu den besonderen Lesungen in private Wohnungen eingeladen zu werden. Das Boot war echt wohl schon voll, als Matthias Baader Holst und ich künstlerisch in die Stadt einritten. Ich denke, man nahm uns wahr, aber wir wurden nicht hinzugezählt. Man stempelte uns als nichtrelevant ab. Nichtrelevant war nach Underground auch so ein Wort, das ich erst im Duden nachschlagen musste, es zu kapieren. Wir wurden nicht zum Kunststamm gerechnet und sind deswegen auch auf keinem Gruppenfoto zu sehen, das später alle Untergrundkünstler vereint um Anderson zeigte. Irgendwie juckte mich die Ablehnung herzlich wenig. Baader dagegen ballte oft die Faust, wenn er den Namen Anderson aussprach. Er redete davon, dass wir ihn kriegen werden. Dieses Wir kriegen dich galt im Westen für Vergewaltiger. Ich fand den Vergleich unpassend, musste aber dennoch über die Assoziation schmunzeln. Mehr aber auch nicht. Ich fand es auf der anderen Seite sehr bedauerlich, dass Baader sich in diesen albernen Mann so festbiss. Ich habe das Buch mit dem Satelliten, der einen Killersatelliten haben soll, gelesen. Ich konnte mit den Gedichten absolut nichts anfangen. Ich hielt Anderson deswegen für einen Blender und überschätzt. Und wunderte mich, wie wichtig er zum Beispiel von Adolf Endler, dessen bizarre Gedichte ich liebte, genommen wurde. Ich war auch einmal auf einer Lesung von ihm. Das war, glaube ich bei den Poppes. Und habe von der Lesung zumindest eine Orange im Kopf behalten. Eine Orange, die auf irgendeinem Tuch oder Teppich lag. Ich weiß noch, dass ich dann, als es eben ganz frisch bekannt war, wie sehr Anderson nebenbei eine bezahlte Plaudertasche war, vorm Café Kiryl mit Penk und Papenfuß in einem Auto saß. Es ging um den Fall Anderson. Penk sprach davon, dass man ihn ja nicht erschießen könne oder so. Der Meinung war ich auch. Ich bekam damals auch die sehr innige Freundschaft zwischen den Künstlern im Auto zu Anderson mit. Da passte kein Papier dazwischen. Er muss dem Penk zum Beispiel früher einmal seelisch sehr geholfen. Und Penk war ihm deswegen dann lebenslang sehr verbunden. Es war auch davon die Rede, Anderson bei seinen Lesungen zur Seite zu stehen. Ich staunte nicht schlecht, dass man mich dazu einlud. Gott sei Dank war ich eben Vater einer Tochter geworden. Ich konnte mich mit ihr brav herausreden. Einmal hat Anderson mich zu ein paar Gedichten von mir belehrt. Ganz nachvollziehen konnte ich seine Schulung nicht. Ich stehe für ein anderes Schreiben. Ich habe nicht groß über seine Kommentare nachgedacht, die Gedichte belassen wie ich sie aufgeschrieben hatte. Mehr ist zwischen uns nicht geschehen. Oh nein. Vor ein paar Tagen grüsste er mich im Vorbeigehen mit einem Hund an der Leine. Oh, dachte ich, da ist ja ein Hund, und dieser Hund hat den Anderson an der Leine dabei. Wau.