Wie lan­ge lebt ein Mensch? Fil­me von Judit Elek

Berlin, 12.-28. September 2025 im Kino Krokodil (KK) und im Collegium Hungaricum Berlin (CHB)
Die Werkschau ist Teil der vom Hauptstadt-Kulturfonds geförderten Veranstaltungsreihe Arsenal on Location.

Interviews mit Judit Elek in Paris 2024 und Budapest 2025 - Von Jörg Taszman

Judit Elek (*1937) ist eine zen­tra­le Figur sowohl des unga­ri­schen Doku­men­tar­films wie auch des Spiel­film­schaf­fens ihres Lan­des. Nach dem Stu­di­um an der Film­hoch­schu­le Buda­pest, das sie 1956 auf­nahm, kurz vor dem unga­ri­schen Volks­auf­stand, ent­stan­den ihre ers­ten kur­zen Fil­me im von ihr mit­be­grün­de­ten Béla Balázs Stu­dio, ein Ort der Expe­ri­men­tier­freu­de und künst­le­ri­schen Frei­heit. Ihr Leben wie ihre Fil­me sind eng ver­knüpft mit den geschicht­li­chen Ereig­nis­sen des 20. Jahr­hun­derts; ihre jüdi­sche Her­kunft fin­det vor allem in ihren spä­te­ren Wer­ken in doku­men­ta­ri­scher sowie fik­ti­ver Form Ein­gang. Über­haupt stellt Eleks Œuvre die „Trenn­bar­keit von fik­tio­na­len und nicht-fik­tio­na­len Fil­men immer wie­der erfolg­reich in Fra­ge. Ein Werk, das dar­in mit den zeit­gleich ent­ste­hen­den fil­mi­schen Erneue­rungs­be­we­gun­gen genau­so kom­mu­ni­ziert wie mit einer bio­gra­fi­schen Situa­ti­on: Bei der Abschluss­ver­ga­be an der Film­hoch­schu­le, wo Elek als ers­te Frau über­haupt zum Regie­stu­di­um zuge­las­sen wur­de, hat­te sie als Frau kein Diplom für Spiel­film-Regie erhal­ten, wes­halb sie zunächst Doku­men­ta­tio­nen fürs unga­ri­sche Fern­se­hen rea­li­sier­te.“ (Frie­de­ri­ke Horst­mann) Kom­pro­miss­los war ­Judit Elek immer. Nach ihrem ers­ten, 1969 ent­stan­de­nen Spiel­film wur­de sie auf­grund eines Dreh­buchs zu den Schau­pro­zes­sen gegen die unga­ri­schen Jako­bi­ner des 18. Jahr­hun­derts mit einem inof­fi­zi­el­len Berufs­ver­bot belegt und konn­te acht Jah­re lang kei­ne Spiel­fil­me dre­hen. Eine Wahr­haf­tig­keit im Abbil­den der Rea­li­tät zeich­net nicht nur Eleks Doku­men­tar­fil­me, son­dern auch ihre Spiel­fil­me aus, in denen sie oft die Bezie­hung zwi­schen Men­schen, ihr Ein­ge­bun­den-Sein in ihre Umwelt, Gefüh­le von Ein­sam­keit und Iso­la­ti­on ins Zen­trum stellt.

KAS­TÉ­LY­OK LAKÓI (Inha­bi­tants of Cast­les in Hun­ga­ry, Ungarn 1966 | 12.9. KK) zeigt den Zusam­men­prall von alten Struk­tu­ren und der sozia­lis­ti­schen Gegen­wart Ungarns. „1966 mach­te ich den Doku­men­tar­film KAS­TÉ­LY­OK LAKÓI, über fünf Schlös­ser in Göd­öl­lő, die ehe­mals könig­li­che Resi­denz der Habs­bur­ger waren. Als ich dort film­te, war z.B. ein Teil des Gebäu­des zu einem Alters­heim umfunk­tio­niert wor­den, ein ande­rer zu einer rus­si­schen Kaser­ne. Alles war in einem sehr ver­fal­le­nen Zustand. Her­un­ter­ge­kom­me­ne Paläs­te, in denen z.B. alte, ver­wirr­te Men­schen wohn­ten, die aber eine eige­ne Mei­nung über die Welt besa­ßen und Schick­sa­le zu erzäh­len hat­ten. Und hin­ter ihnen sieht man im Film die ­baro­cken Fas­sa­den und schnee­wei­ßen Kami­ne.“ (Judit Elek)

Ihr Lang­film­de­büt gab Elek mit dem zwei­tei­li­gen Film MED­DIG ÉL AZ EMBER? (How Long Does Man Live?, Ungarn 1968 | 12.9. KK, Ein­füh­rung: Bar­ba­ra Wurm), in dem sie zunächst die letz­ten Berufs­ta­ge eines Fabrik­ar­bei­ters beob­ach­tet und sei­nen kör­per­li­chen und geis­ti­gen Ver­fall nach dem Ren­ten­be­ginn sowie anschlie­ßend sei­nen Nach­fol­ger, einen Jugend­li­chen, der gera­de sei­ne Aus­bil­dung beginnt. Die­ser Film gewann einen Haupt­preis bei den Kurz­film­ta­gen Ober­hau­sen, wur­de anschlie­ßend 1968 in Can­nes in der Semai­ne de la Cri­tique gezeigt („Der letz­te Film, der vor­ge­führt wur­de, bevor Truf­faut und Godard den Vor­hang her­un­ter­ris­sen und die Revo­lu­ti­on aus­brach.“ – Judit Elek) und ist heu­te eines von Eleks bekann­te­ren Werken.

SZI­GET A SZÁ­RAZF­ÖL­DÖN (Lady from Con­stan­ti­nop­le, Ungarn 1969 | 12. KK & 18.9. CHB, Ein­füh­rung: Gary Vani­sian) Die Prot­ago­nis­tin von Judit Eleks ers­tem lan­gen Spiel­film zeigt die täg­li­che Rou­ti­ne einer von der bekann­ten Schau­spie­le­rin Manyi Kiss ver­kör­per­ten älte­ren Frau. Sie lebt ganz in ihren Erin­ne­run­gen, was sich sowohl in den alten Möbeln und Gegen­stän­den ihrer geräu­mi­gen Woh­nung wie in den von ihr ger­ne auf­ge­leg­ten Schla­ger­plat­ten wider­spie­gelt. Das nach­bar­schaft­li­che Zusam­men­le­ben ist geprägt von Nähe und gele­gent­li­cher Hilfs­be­reit­schaft, aber auch von Klatsch und Miss­gunst. Als sie sich ent­schließt, ihre gro­ße Woh­nung zum Tausch anzu­bie­ten, lernt sie unter­schied­lichs­te Men­schen ken­nen. Eine Grup­pen­be­sich­ti­gung wird bald zur aus­ge­las­se­nen Fei­er, wie über­haupt die Dar­stel­lung gewöhn­li­cher Ereig­nis­se immer wie­der ins Sur­rea­le kippt. Eleks Blick auf die „Lady von Kon­stan­ti­no­pel“ ist vol­ler Zärt­lich­keit und auch Melan­cho­lie, die Viel­falt der Lebens­ent­wür­fe in Buda­pest regis­triert sie mit fei­ner Ironie.

ISTEN­ME­ZE­JÉN 1972–73-BAN (Isten­me­ze­jén, ein unga­ri­sches Dorf, Ungarn 1974 | 16.9. KK) Ein berüh­ren­des, fein­füh­li­ges doku­men­ta­ri­sches Dipty­chon ent­stand in den 70er Jah­ren im Dorf Isten­me­ze­je (dt. Got­tes­feld) in einer länd­li­chen Berg­ar­bei­ter­ge­gend, wo Män­ner und Jun­gen in einem Berg­werk arbei­ten und jun­ge Mäd­chen mit 15 Jah­ren hei­ra­ten. Es ist das Por­trät zwei­er Mäd­chen, Ilon­ka und Mari­ka, die sich zwi­schen Feld­ar­beit und Schu­le, Ehe und Umzug in die Stadt ent­schei­den müs­sen, ohne das wirk­lich ent­schei­den zu kön­nen. „Die sozio­gra­fi­sche ­Stu­die zeigt Eleks Fas­zi­na­ti­on für Men­schen, Behau­sun­gen, Orte. Sie han­delt von Lebensbe­dingungen jun­ger Frau­en in einem klei­nen Dorf, von ihren Wider­stän­den, ihren Sehn­süch­ten. Zugleich erwei­tert der Film durch die zeit- und raum­do­ku­men­ta­ri­schen Aspek­te den Blick über indi­vi­du­el­le Frau­en­schick­sa­le hin­aus, ohne ­jedoch unspe­zi­fisch zu wer­den.“ (Frie­de­ri­ke Horstmann)

Mit EGYS­ZERŰ TÖR­TÉ­NET (Ein­fa­che Geschich­te, Ungarn 1975 | 16.9. KK) setzt Elek ihre Lang­zeit­be­ob­ach­tung im Dorf Isten­me­ze­je fort, ein geo­gra­fisch und sozi­al von städ­ti­schen Zen­tren weit ent­fern­tes Dorf, in dem gesell­schaft­li­che Fort­schrit­te ver­spä­tet ein­tref­fen. In ihrer Kon­zen­tra­ti­on auf die bei­den Mäd­chen und ihre Fami­li­en schält sich ein Bild des länd­li­chen Ungarn her­aus, das weit über Ein­zel­schick­sa­le hin­aus­geht. „Sie ver­an­schau­li­chen, wie aus doku­men­ta­ri­schem Mate­ri­al ein Roman ent­steht, der trotz­dem ein Doku­men­tar­film bleibt. Mei­ne Fil­me sind sehr per­sön­lich. Sie kon­zen­trie­ren sich sehr auf Men­schen, Gefüh­le und Bezie­hun­gen. Es geht um die Lie­be, um Ent­schei­dun­gen über den Lebens­weg, Ehe, Selbst­mord und Selbst­mord­ver­su­che.“ (Judit Elek) Geplant war auch ein drit­ter Teil, in dem Judit Elek ihre eige­ne Rol­le bei der Ent­ste­hung der Fil­me reflek­tie­ren woll­te, was sich jedoch nie verwirklichte.

TALÁL­KO­ZÁS (Encoun­ter, Ungarn 1963 | 18.9. CHB) Eine Frau und ein Mann tref­fen sich an einem Nach­mit­tag in Buda­pest, schlen­dern durch die Stadt, nähern sich ein­an­der vor­sich­tig an. Bei­de sind vol­ler Erwar­tun­gen und Hoff­nun­gen, die das Ken­nen­ler­nen und den Wunsch nach Ver­bin­dung eher erschwe­ren als ver­ein­fa­chen. Gedreht mit Stil­mit­teln des Direct Cine­ma, mit nicht­pro­fes­sio­nel­len Schauspieler*innen und impro­vi­sier­ten Dia­lo­gen, ent­steht in gro­ßer Unmit­tel­bar­keit das berüh­ren­de Por­trät einer Begegnung.

TUTA­JOS­OK (Memo­ries of a River, Ungarn/​Frankreich 1989 | 24.9. KK, Ein­füh­rung: Jörg Tasz­man) Am 1. April 1882 ver­schwand ein 14-jäh­ri­ges Mäd­chen aus einem Dorf im nord­öst­li­chen Ungarn. Wil­de Gerüch­te ent­stan­den, sie sei einem jüdi­schen Ritu­al­mord aus Anlass des zwei Tage spä­ter begin­nen­den Pes­sach­fes­tes zum Opfer gefal­len. Obwohl das nach­weis­lich ertrun­ke­ne Mäd­chen Mit­te Juni 1882 in der Tis­za gefun­den wur­de, ­begann ein dif­fa­mie­ren­der Pro­zess gegen 15 Mit­glie­der der ört­li­chen jüdi­schen Gemein­de. Er ende­te zwar mit Frei­sprü­chen, ist aber wie auch der Drey­fus-Pro­zess eini­ge Jah­re spä­ter in Frank­reich Aus­druck eines immer lau­ter wer­den­den Anti­se­mi­tis­mus in der 2. Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts ange­sichts der erfolg­rei­chen ­„Jüdi­schen Eman­zi­pa­ti­on“ in den Jahr­zehn­ten davor. Die soge­nann­te „Affä­re von Tis­za­es­zlár“ wur­de mehr­fach im Kino und in der Lite­ra­tur ver­ar­bei­tet, u.a. von Arnold Zweig (Ritu­al­mord in Ungarn, 1914) und G.W. Pabst (Der Pro­zess, 1948). Elek schrieb das Dreh­buch zu ihrem Film mit dem eben­falls jüdisch­stäm­mi­gen Autor ­Péter Nádás, einem der wich­tigs­ten unga­ri­schen Schrift­stel­ler der Gegen­wart. Gemein­sam gestal­te­ten sie den Stoff als epi­sche, bild­ge­wal­ti­ge Erzäh­lung; Elek insze­nier­te für die Ent­ste­hungs­zeit aus­ge­spro­chen unge­wöhn­lich wei­te Stre­cken des Films in Groß­auf­nah­men und mit einer gera­de­zu frap­pie­ren­den doku­men­ta­ri­schen Unmittelbarkeit.

MONDA­NI A MOND­HAT­AT­LANT – ELIE WIE­SEL ÜZE­NE­TE (To Speak the Unspeaka­ble – The Mes­sa­ge of Elie Wie­sel, Ungarn/​Frankreich/​USA 1996 | 28.9. KK) „Nie wer­de ich die Augen­bli­cke ver­ges­sen, die mei­nen Gott und mei­ne See­le mor­de­ten, und mei­ne Träu­me, die das Ant­litz der Wüs­te annah­men. Nie wer­de ich das ver­ges­sen, und wenn ich dazu ver­ur­teilt wäre, so lan­ge wie Gott zu leben. Nie.“ Elie Wie­sel gelingt es in sei­nem Debüt­roman Die Nacht (1958) für das unsag­ba­re Grau­en der Sho­ah Wor­te zu fin­den, die, ein­mal gele­sen, als stän­di­ge Mah­nung fort­dau­ern. Judit Eleks Film wie­der­um ist eine beein­dru­ckend sub­ti­le, umfas­sen­de und zugleich unauf­dring­li­che Annä­he­rung an den Men­schen Elie Wie­sel, sein uner­müd­li­ches Wir­ken gegen das Ver­ges­sen und sein zeit­lo­ses Werk, das u.a. mit dem Frie­dens­no­bel­preis aus­ge­zeich­net wur­de. Den zen­tra­len Teil des Films bil­det die von der Kame­ra minu­ti­ös doku­men­tier­te ers­te Rück­kehr Wie­sels in sein Hei­mat­dorf Sighe­tu Mar­mați­ei und in das Ver­nich­tungs­la­ger Ausch­witz-Bir­ken­au, das er über­lebt hat­te. (Annet­te Lingg/​Gary Vanisian)

Eine Film­rei­he in Koope­ra­ti­on mit dem Film­kol­lek­tiv Frank­furt. Dank geht an Gary Vanisian.

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Inter­views mit Judit Elek in Paris 2024 und Buda­pest 2025

Von Jörg Taszman

Mar­ta Més­za­ros ist Jahr­gang  1931 und inter­na­tio­nal die wohl bekann­tes­te unga­ri­sche Fil­me­ma­che­rin. Zeit­gleich mit ihr begann auch die Fil­me­ma­che­rin Judit Elek (Jahr­gang 1937) ihre Kar­rie­re. Aller­dings geriet Judit Elek trotz gro­ßer Fes­ti­val­er­fol­ge in Can­nes ein wenig in Ver­ges­sen­heit. Zuerst wid­me­te ihr 2023 das Fes­ti­val in Rot­ter­dam eine aus­führ­li­che Werk­schau mit 18 Fil­men und nann­te die­se Werk­schau lie­be­voll : The Lady from Buda­pest. Das ist eine Anspie­lung auf ihren ers­ten, wich­ti­gen Spiel­film der inter­na­tio­nal unter dem Titel The Lady from Con­stan­ti­nop­le bekannt wur­de. Im März  2024 zog die Ciné­ma­t­hè­que Fran­cai­se in Paris nach und prä­sen­tier­te in Anwe­sen­heit der Fil­me­ma­che­rin sechs ihrer Spiel­fil­me zwi­schen 1968 und 2011.

Sie stam­men aus einer jüdi­schen Fami­lie, haben das aber lan­ge Zeit nicht in ihren Fil­men the­ma­ti­siert. Warum?

Ich wur­de in ein Buch­ge­schäft hin­ein­ge­bo­ren im Jah­re 1937. Das Geschäft hieß „Vigs­zin­ház Antik­va­ri­um und Buch­ge­schäft“ und wur­de sehr gut besucht. Bei mei­ner Geburt hieß ich noch Ehren­reich. Ich bin kei­ne gläu­bi­ge Jüdin, weil mein Vater Kom­mu­nist war. Als ich 1988 vie­le Jahr spä­ter mei­nen Film „Memoi­rs of a River“ vor­be­rei­te­te, wuss­te ich nichts vom Juden­tum und sei­nen Bräu­chen. Das hat­te man mir zuhau­se nicht mit­ge­ge­ben. Schon allein das Wort Jude, das fiel nie.

Wenn man bei Ihnen in ihrer Woh­nung sitzt, fal­len die vie­len Bücher auf. Hat das auch mit dem Beruf ihres Vaters zu tun?

Judit Elek: In mei­nem Film Ébre­dés „Das Erwa­chen“ gibt es die­sen alten Mann, einen Buch­händ­ler, geni­al ver­kör­pert von  Dez­sö Garas, der lei­der nicht mehr lebt. Für mich ist unver­gess­lich, wie er dem jun­gen Mäd­chen im Film Shake­speare auf Eng­lisch vor­liest.  Es ist eine Hom­mage an den Buch­la­den mei­ner Eltern. Das Anti­qua­ri­at, war zwi­schen den bei­den Welt­krie­gen ein lin­ker Club. Mein Vater wur­de 1905 gebo­ren und woll­te ursprüng­lich Inge­nieur wer­den. Aber das ging nicht, weil es für Juden einen Nume­rus Clau­sus in Ungarn gab.

Sei­ne Eltern besa­ßen einen Lebens­mit­tel­la­den am Mát­tyás-Platz im 7.Bezirk. Sie ver­kauf­ten dort alles, sogar Schnaps. Die Hand­wer­ker der Umge­bung began­nen ihren Tag damit, dass sie in die­sen lin­ken, sozia­lis­ti­schen Lebens­mit­tel­la­den gin­gen, der mei­nem Groß­va­ter gehör­te.  Er öff­ne­te um sechs Uhr mor­gens, damit die Hand­wer­ker und Tage­löh­ner ihren mor­gend­li­chen Pálin­ka beka­men und den Tag begin­nen konn­ten. Das war also die Luft, die ich durch mei­nen Vater ein­at­men konn­te, dazu noch ein biss­chen fran­zö­si­sche Luft. Denn mit 17 Jah­ren war er bereits im Gefäng­nis, als lin­ker, jun­ger Arbei­ter, heu­te wür­de man sagen, als Indus­trie-Lehr­ling. Er wur­de auch nicht aufs Gym­na­si­um geschickt, weil sei­ne Eltern dafür kein Geld aus­ge­ben woll­ten, um ihn noch vier Jah­re lang wei­ter zur Schu­le zu schi­cken. Aber mein Vater war ein rebel­li­scher jun­ger Mann und akzep­tier­te das nicht.  Das habe ich von ihm geerbt, die­se Eigen­stän­dig­keit, die­ses Rebel­li­sche, die­se Unan­ge­passt­heit der Gesell­schaft gegenüber.

Ihr ers­ter Spiel­film als Regis­seu­rin Szi­get a Sza­razf­öl­dön (wört­lich über­setzt: Eine Insel auf dem Fest­land) wur­de 1969 in Can­nes gezeigt und erzählt von einer alten Dame, die ihre zu gro­ße Woh­nung tau­schen muss. Es ist ein amü­san­tes, doku­men­ta­risch wir­ken­des Werk über beeng­te Wohn­ver­hält­nis­se in Buda­pest. Wie haben Sie das damals gedreht? 

Das Dreh­buch schrieb ich zusam­men mit Ivan Mán­dy einem sehr bekann­ten Schrift­stel­ler.  Wir hat­ten schon vor­her in ver­schie­de­nen Berei­chen zusam­men­ge­ar­bei­tet. Zunächst bot er mir sei­ne Novel­len an, damit ich sie ver­fil­me. Aber ich sag­te ihm: „ Nein, ich kann nur von mir selbst aus­ge­hen“. Es gab dann einen gewis­sen Druck, was die Geschich­te betraf. Denn Ist­van Nemes­kür­ty der Lei­ter von Mafilm, der ursprüng­lich aus der Buch­bran­che stamm­te,  hat uns damit gequält, dass wir eine Hand­lung brau­chen, etwas Dra­ma­ti­sches, einen Kon­flikt oder so etwas. Und weder Iván Mán­dy noch ich hat­ten das Gefühl, dass es das wirk­lich braucht.

Wir woll­ten, dass die Schau­spie­ler nicht als Schau­spie­ler auf­tre­ten und ganz bewusst das Doku­men­ta­ri­sche mit ein­flie­ßen las­sen. Wir dreh­ten bei­spiels­wei­se mit den  Schau­spie­lern in die Lebens­rea­li­tät des Lehel-Mark­tes, was sie gut auf­nah­men.  Es war schon gewagt, eine so bekann­te Dar­stel­le­rin wie Manyi Kiss dort so spie­len zu las­sen, dass sie kei­ner erkann­te. Wir haben auch mit ver­steck­ter Kame­ra gedreht. 

Und wie kam ihr Film nach dem Erfolg in Can­nes in Ungarn an?

Zuhau­se in Ungarn erfuhr ich kei­ne Aner­ken­nung. Schon davor gewann ich mit mei­nem Film „Solan­ge der Mensch lebt“ den Gro­ßen Preis in Ober­hau­sen. Es war ein gro­ßer Erfolg. In Ungarn wur­de über bei­de Fil­me kein Mucks und kein Buch­sta­be ver­lo­ren. Das war wie bei Mar­ta Més­za­ros. Wir bei­de ver­such­ten Fil­me zu dre­hen, die eine Wirk­lich­keit zeig­ten. Das gehör­te sich aber nicht, denn das war nicht unser glor­rei­cher Sozia­lis­mus. Vie­le Jah­re spä­ter frag­te man mich ein­mal in einem Inter­view, wel­ches ein­zel­ne Wort mir zum Sozia­lis­mus ein­fie­le, um ihn zu cha­rak­te­ri­sie­ren?  Und ich ant­wor­te­te:  Häss­lich. Er war grau und hässlich.

Sie hat­ten dann Pro­ble­me mit der Zen­sur und ihr Film „Tuta­jos­ok“ (Memo­ries of a River) kam in Ungarn auch nicht son­der­lich gut an. Wor­an lag das?

In Ungarn ver­glich man mei­nen Film mit dem Skan­dal um den Bau des Was­ser­kraft­werks in Nagymá­ros, der 1989 von der unga­ri­schen Regie­rung gestoppt wur­de. Man bedach­te mich mit schreck­li­chen Kri­ti­ken. Aber es tan­gier­te mich kaum, weil als die­se Arti­kel erschie­nen, war ich bereits in New York. Denn mit „Memo­ries of a River“ wur­de das ers­te inter­na­tio­na­le jüdi­sche Film­fes­ti­val in New York in der Car­ne­gie Hall eröff­net. Dort waren auch Ver­tre­ter der  unga­ri­schen Bot­schaft ver­tre­ten, aber auch Elie Wie­sel, der ja aus Mará­má­ros (heu­te in Rumä­ni­en Mara­mu­res)  stammt.

Um „Memo­ries of a River“ zu dre­hen, muss­te ich zwei­mal von vor­ne anfan­gen. Wir hat­ten bereits eine Unmen­ge an Geld aus­ge­ge­ben, als das unga­ri­sche Fern­se­hen aus­stieg. Plötz­lich  soll­te es  kei­nen Film mehr über Juden geben, weder über Anti­se­mi­tis­mus, noch dass es über­haupt Juden gab und Schluss. Aber ich fin­de mich nicht so schnell mit Absa­gen ab und man braucht auch immer Glück, um einen Film zu machen. Der fran­zö­si­sche Pro­du­zent Hubert Nio­g­ret hat­te das Dreh­buch gele­sen. Es gab außer­dem Geld vom fran­zö­si­schen Kul­tur­mi­nis­te­ri­um unter Jac­ques Lang und so ent­stand „Memo­ries of a River“ als  unga­risch-fran­zö­si­sche Koproduktion.

Kom­men wir zurück zu Elie Wie­sel. Kam es damals in New York dann zu ihrem ers­ten Treffen?

Nach der Pre­mie­re von „Memo­ries of a River“ rief er die unga­ri­sche Bot­schaft an, und sag­te, dass er mit mir ger­ne unter ruhi­gen Umstän­den über den Film reden möch­te, der ihn so erschüt­tert habe. Elie Wie­sel bat mich, ihn zu besu­chen. Als ich bei ihm ankam, erzähl­te er mir, dass er vie­le Anfra­gen erhal­ten habe, einen Film über sein Leben zu dre­hen die er immer abge­lehnt hat­te. Ich wuss­te aber auch, dass es nicht ein­fach mit ihm ist, weil er eine Ver­fil­mung von sei­nem Buch „Das Mor­gen­grau­en“ von Miklos Jancsó,  der ein guter Freund von mir war,  zunächst ver­bo­ten hat­te. (Anm. Der Film lief 1985 im Wett­be­werb der Berlinale).

Gab es dann Abspra­chen,  wie der Film „To speak the Unspeaka­ble: The Mes­sa­ge of Elie Wiese“l wer­den sollte?

Eine Bedin­gung war, dass ich ihn nicht dafür bezah­le, denn alles Geld, das wir hat­ten, brauch­ten wir, um den Film fer­tig­zu­stel­len. Ich woll­te, dass er zurück an sei­ne Ursprün­ge geht:  den gesam­ten Weg von sei­nem zu Hau­se bis zur Befrei­ung erneut zu Fuß zurück­legt. Es geht um den Ver­lust sei­ner Schwes­ter, sei­ner Mut­ter, sei­nes Vaters, sei­nes Groß­va­ters. Nur zwei sei­ner Schwes­tern über­leb­ten.  Eine Inspi­ra­ti­on war sei­ne Novel­le „Die Nacht“ die er noch auf Jid­disch geschrie­ben hat­te.  Es war für ihn ziem­lich schwer, die­sen Weg zu gehen. Und ich kann Elie nicht genug dafür dan­ken, dass er so hel­den­haft war.