Der ver­schwun­de­ne Sol­dat / The Vanis­hing Sol­dier / החייל הנעלם

Isra­el 2023, 98 min, Hebrä­isch | Eng­lisch | Fran­zö­sisch mit deut­schen Untertitel

Regie: Dani Rosenberg

Im Mor­gen­grau­en nach einem Kampf­ein­satz im Gaza-Strei­fen ent­fernt sich Shlo­mi Aha­ro­nov, ein 18-jäh­ri­ger Infan­te­rie­sol­dat der Gola­ni-Bri­ga­de, von sei­ner Ein­heit und der Trup­pe, indem er ein­fach weg­läuft. Sein Weg führt ihn zunächst zum Haus sei­ner Eltern in der Sied­lung Sde Uziel auf dem Land. Sei­ne Eltern trifft er nicht an. Als Sol­da­ten vor dem Haus auf­tau­chen um offen­sicht­lich sei­ne Eltern auf­su­chen zu wol­len, flüch­tet Shlo­mi mit einem Fahr­rad. Schließ­lich gelangt er mit einem Mili­tär­bus, in wel­chem er uner­kannt mit­fah­ren kann, nach Tel Aviv, wo er sei­ne Freun­din Shiri auf Arbeit besucht.

Als Shlo­mi erfährt, dass die Mili­tär­füh­rung davon über­zeugt ist, dass er in den Kriegs­wir­ren ent­führt wur­de, ver­steckt er sich nicht nur vor den Sol­da­ten, von denen er glaub­te, dass sie hin­ter ihm her sind, son­dern vor sei­ner eige­nen Iden­ti­tät, die zu einer Fal­le gewor­den ist. Trotz der Bit­ten sei­ner Eltern, zu sei­ner Ein­heit zurück­zu­keh­ren, bevor es zu spät ist, geht Shlo­mi ein ver­zwei­fel­tes Risi­ko für die Lie­be ein – mit dra­ma­ti­schen Folgen.

„Eines Nachts stand ich allein auf einem Wach­pos­ten in einem Mili­tär­la­ger in der Judäi­schen Wüs­te. Ich war 18 Jah­re alt und hat­te Mona­te der Gewalt, der Aus­bil­dung und der sen­gen­den Son­ne hin­ter mir. Spon­tan ent­schloss ich mich, vom Beob­ach­tungs­turm her­un­ter­zu­stei­gen, über den Zaun des Lagers zu klet­tern und in die Rich­tung zu ren­nen, die ich für die Haupt­stra­ße hielt. Mit der Zeit ver­lang­sam­te der Wind, der mir ins Gesicht blies, mei­nen Lauf zu einem Spa­zier­gang. Da ich die Stra­ße nicht aus­fin­dig machen konn­te, waren die ein­zi­gen Lich­ter, die die dunk­le Nacht durch­dran­gen, die­je­ni­gen, die von der Basis hin­ter mir aus­gin­gen. Nach einer lan­gen und angst­vol­len Stun­de ver­folg­te ich mei­ne Schrit­te zurück und kehr­te heim­lich zum Stütz­punkt zurück, ohne dass mein geschei­ter­ter Flucht­ver­such ent­deckt wur­de. Ich möch­te dem Wesen die­ses Ereig­nis­ses auf den Grund gehen, jener Nacht, in der ich rebel­lier­te, aber nicht bis zum Äußers­ten ging. Ich habe ver­sucht zu ent­schlüs­seln, war­um ich nicht gehan­delt habe und war­um ich auch heu­te noch, inmit­ten der gewalt­tä­ti­gen Rea­li­tät drau­ßen und im Wis­sen um die Taten mei­nes Lan­des, hier blei­be und im Wesent­li­chen wei­ter kollaboriere.

Shlo­mi, der Prot­ago­nist von DER VER­SCHWUN­DE­NE SOL­DAT, ist ein 18-jäh­ri­ger Sol­dat, der vom Schlacht­feld flieht und nach Hau­se zurück­keh­ren will. Wäh­rend sei­ner Rei­se über­quert Shlo­mi uner­müd­lich eine unschar­fe Linie, die sich von sei­ner Flucht aus dem Gaza­strei­fen bis nach Tel Aviv erstreckt, wo sich die Gren­zen zwi­schen einem Kriegs­ge­biet und dem städ­ti­schen Raum auf­lö­sen. Er hört nie auf, sich zu bewe­gen. Viel­leicht zum ers­ten Mal in sei­nem Leben kämpft Shlo­mi um sei­ne unab­hän­gi­ge Iden­ti­tät, nur um fest­zu­stel­len, dass er, je mehr er sich anstrengt, immer tie­fer in den Treib­sand sinkt, bis sei­ne Iden­ti­tät schließ­lich von den Umstän­den über­nom­men wird.

Shlo­mi ent­zieht sich sei­nen Pflich­ten, die ihn in ein grau­sa­mes und unge­rech­tes Sys­tem zur Unter­drü­ckung und Kon­trol­le der Paläs­ti­nen­ser ein­ge­glie­dert hät­ten. Er flieht aus dem Gaza­strei­fen und begibt sich nach Tel Aviv, einem Ort, der die Nor­ma­li­tät zu sym­bo­li­sie­ren scheint, nur andert­halb Stun­den von Gaza ent­fernt und doch Licht­jah­re davon ent­fernt. Die­ser Anschein von Nor­ma­li­tät wird jedoch von Mau­ern, Zäu­nen und kom­pli­zier­ten Sys­te­men durch­bro­chen, die die aus dem Gaza­strei­fen abge­feu­er­ten Rake­ten in klei­nen Wol­ken am Him­mel abfan­gen. Shlo­mi merkt, dass er in einem stän­di­gen Schwe­be­zu­stand gefan­gen ist und zwi­schen Gaza und Tel Aviv hin und her pen­delt. Er kann dem herr­schen­den Cha­os und der Gewalt nicht ent­kom­men. Es ist die Span­nung zwi­schen Lei­den­schaft und Gesetz, die zwi­schen Bewe­gung und Still­stand oszil­liert.Shlo­mi, ein nai­ver Träu­mer, der von den Legen­den der jüdi­schen Mär­chen geprägt ist, sucht ver­zwei­felt nach Ankern. Er sehnt sich nach einer Erzäh­lung, die sei­ner Flucht einen Sinn geben kann, nach Geschich­ten, an denen er sich fest­hal­ten kann. Doch eine nach der ande­ren brö­ckelt, von der Trost­lo­sig­keit des lee­ren Hau­ses sei­ner Eltern bis zur flüch­ti­gen Hoff­nung auf eine Roman­ze.Gegen sei­nen Wil­len wird Shlo­mi vom Deser­teur zum Gefan­ge­nen, von jeman­dem, der sich vom Krieg distan­zie­ren und sei­ne Iden­ti­tät neu defi­nie­ren woll­te, zu einem Indi­vi­du­um, des­sen auto­no­me Exis­tenz vom Bild des „gefan­ge­nen Sol­da­ten“ auf­ge­zehrt wird. Die Ero­si­on von Shlo­mis per­sön­li­cher Iden­ti­tät spie­gelt einen umfas­sen­de­ren Iden­ti­täts­ver­lust wider, der mit der Ent­wick­lung mei­nes Lan­des ver­wo­ben ist.“ (Regie­kom­men­tar von Dani Rosenberg)

„Der jun­ge Regis­seur Dani Rosen­berg insze­niert ein pul­sie­ren­des Dra­ma mit kla­rer Hal­tung, einen Anti­kriegs­film, der den Nah­ost­kon­flikt aus israe­li­scher Sicht schil­dert und dabei die Sied­lungs­po­li­tik der eige­nen Regie­rung scharf kri­ti­siert. Dabei zeigt er, dass die Ris­se nicht nur durch die israe­li­sche Gesell­schaft gehen, son­dern auch Fami­li­en und Freun­des­krei­se einer Genera­ti­on betref­fen, die mit­ten im Kon­flikt auf­wächst. Shlo­mi mag vor­über­ge­hend die Flucht gelin­gen, doch ein Ent­kom­men kann es nicht geben. Gedreht lan­ge vor dem Mas­sa­ker der Hamas vom 7. Okto­ber, wirkt der Film nun fast wie aus einer ande­ren Zeit und zugleich umso dring­li­cher.“ (Tho­mas Abelts­hau­ser, epd​-film​.de)