Die Ermitt­lung

Deutsch­land 2024, 240 min, deut­sche Originalfassung

Regie: RP Kahl     nach dem Thea­ter­stück Die Ermitt­lung von Peter Weiss

Im Zen­trum des Films ste­hen ein Rich­ter, ein Ver­tei­di­ger und ein Anklä­ger, die im Rah­men der Ver­hand­lung auf Zeu­gin­nen und Zeu­gen tref­fen, die von ihren Erleb­nis­sen und Beob­ach­tun­gen in Ausch­witz berich­ten. Die Ange­klag­ten wer­den im Pro­zess mit Beschrei­bun­gen der Zeu­gen kon­fron­tiert und sol­len Stel­lung beziehen.

„Es ist ein Film, der sich auf das Wort ver­lässt: DIE ERMITT­LUNG von RP Kahl lehnt sich eng an Peter Weiss’ doku­men­ta­ri­sches Thea­ter­stück Die Ermitt­lung. Ora­to­ri­um in 11 Gesän­gen über den ers­ten Ausch­witz-Pro­zess (1963 bis 1965) an – ein Klas­si­ker der Erin­ne­rungs­kul­tur in West- und Ost­deutsch­land. Mit einem 60-köp­fi­gen Ensem­ble stellt der Film nach Weiss’ Vor­bild den Aus­sa­gen der Zeu­gen die Aus­flüch­te der Ange­klag­ten (unter ande­rem Wach­män­ner, Lager­ärz­te und der Lager-Apo­the­ker) gegen­über und ver­dich­tet sie – ein Kon­zept, das voll und ganz aufgeht.

Stark wir­ken die Nüch­tern­heit einer mini­ma­lis­ti­schen Kulis­se zwi­schen Gerichts­saal und TV-Stu­dio mit weni­gen Tischen, Stüh­len und Mikro­fo­nen – und die leben­di­ge Mimik und Ges­tik, nicht zuletzt von Rich­ter, Ankla­ge und Ver­tei­di­gung. Alle drei die­nen den Zuschau­ern als emo­tio­na­ler Fil­ter des Grau­ens, über das hier ver­han­delt wird. Dabei wird der Mas­sen­mord selbst kein ein­zi­ges Mal im Bild gezeigt. Der Film ist natur­ge­mäß bedrü­ckend, aber zugleich so fes­selnd, dass man trotz sei­ner Län­ge (im Ori­gi­nal vier Stun­den, Kinos wird auch eine Fas­sung von gut drei Stun­den ange­bo­ten) nicht in Ver­su­chung gerät, die Vor­füh­rung vor­zei­tig zu ver­las­sen. Denn DIE ERMITT­LUNG ist kein abge­film­tes Thea­ter, son­dern ein her­vor­ra­gen­des Kino­dra­ma.“ (Aya­la Gold­mann, Jüdi­sche All­ge­mei­ne Nr. 30, 25.07.2024)

„Der Regis­seur RP Kahl, 1970 in Cott­bus gebo­ren, hat Die Ermitt­lung von Peter Weiss ver­filmt, einen der wich­tigs­ten deutsch­spra­chi­gen Thea­ter­tex­te des 20. Jahr­hun­derts. 1965 wur­de das Stück nach dem Frank­fur­ter Ausch­witz-Pro­zess an der Frei­en Volks­büh­ne in West-Ber­lin und über einem Dut­zend wei­te­rer Büh­nen in der Bun­des­re­pu­blik und der DDR und in Lon­don gleich­zei­tig urauf­ge­führt. Zu der Zeit ent­stand beim NDR auch eine Fern­seh­fas­sung. (…) Und heu­te? Ist es anders und auch wie­der nicht. Rechts­ra­di­ka­le Kräf­te drän­gen in die deut­schen Par­la­men­te, wol­len an die Macht. Nazi-Sym­bo­le, faschis­ti­sche Spra­che, Rela­ti­vie­rung der Geschich­te – all das sickert in den All­tag ein. Anti­se­mi­tis­mus nimmt zu. Seit Jah­ren brin­gen Umfra­gen unter jun­gen Men­schen furcht­ba­re Wis­sens­lü­cken über den Nazi-Ter­ror und die Mas­sen­mor­de an den Tag. Und auch Ignoranz.

Man muss sich nicht der Illu­si­on hin­ge­ben, dass ein Film wie DIE ERMITT­LUNG dar­an viel ändern kann. Aber es gibt die­ses her­aus­ra­gen­de Werk. Es ist da. Es wird blei­ben. Es war über­fäl­lig. Das vier­stün­di­ge, stren­ge, schmuck­lo­se, selt­sam gedämpf­te Rol­len­spiel han­delt vom Fra­gen. Eine Fra­ge wäre: War­um spie­len unse­re gro­ßen Thea­ter die­ses Stück nicht?

Die Ant­wort wirft kein gutes Licht auf den Betrieb. Sol­che Stü­cke sind weit­ge­hend vom Spiel­plan ver­schwun­den, weil sich Regie hier nicht aus­brei­ten und aus­to­ben kann, son­dern die­nen muss, dem Text und der Sache. Ohne fal­sches Pathos, ohne ritua­li­sier­tes Gedenken.

(…) Die­se ‚Ermitt­lung‘ hält die mör­de­ri­sche Span­nung. Die Auf­merk­sam­keit lässt im Gang der Stun­den nicht nach, im Gegen­teil. Immer drän­gen­der stellt die­ses Lehr­ki­no­stück die größ­te aller Fra­gen: Wie war es möglich?

Bei der Pre­mie­re im Ber­li­ner Zoo-Palast sag­te RP Kahl: ‚Wir müs­sen immer wie­der dar­an erin­nern, dass es Ausch­witz gege­ben hat. Das ist das Min­des­te, was wir den Opfern gegen­über tun kön­nen.‘ Sicht­lich bewegt sag­te er auch, es wäre ihm lie­ber gewe­sen, er hät­te die­sen Film nicht dre­hen müs­sen. Aber dann leb­ten wir in einer ganz ande­ren Welt.“ (Rüdi­ger Scha­per, Der Tages­spie­gel 25.07.2024)

„Es gab zuletzt beim Ausch­witz-Film ZONE OF INTE­REST von Jona­than Gla­zer eine Debat­te dar­über, wie man vom Grau­en, vom Zivi­li­sa­ti­ons­bruch, im Kino erzäh­len kön­ne. Der Film über die Fami­lie des Ausch­witz-Kom­man­dan­ten Rudolf Höß zeig­te die Juden­ver­nich­tung, indem er sie nicht zeig­te. (…) Bei Kahl kann man hin­ge­gen sehen, dass sich sehr wohl im Film über das Grau­en, das Undar­stell­ba­re spre­chen lässt. Man braucht nur die­se lite­ra­ri­sche Prä­zi­si­on, die­se scho­nungs­lo­se Nüch­tern­heit, mit der Weiss die Sta­tio­nen im Lager schil­dert – von der Ram­pe bis zu den Feu­er­öfen. ‚Wir müs­sen die erha­be­ne Vor­stel­lung fal­len las­sen / dass uns die­se Lager­welt unver­ständ­lich ist‘, sagt ein Zeu­ge an einer Stel­le. Man habe die Gesell­schaft gekannt, die sol­che Lager mög­lich machte.

In einer Zeit, in der nur noch weni­ge Zeit­zeu­gen leben, ist das Stück von Peter Weiss selbst zum Zeug­nis gewor­den. Nicht nur für das heu­te viel beschwo­re­ne ‚Nie wie­der‘, son­dern auch für einen Wil­len zur Auf­klä­rung, der sich nicht in mora­li­scher Empö­rung erschöpft.“ (Peter Neu­mann, DIE ZEIT Nr 32, 25.07.2024)