Ein Abend für Julia.

Julia Kun­erts (1953 – 2022) Kame­ra­blick ist zuge­wandt und inter­es­siert am schö­nen Men­schen­le­ben. Etwas Zärt­li­ches und Frei­es fin­det sich in den Fil­men, ein Aus­sche­ren aus dem Offi­zi­el­len, Reprä­sen­ta­ti­ven und ein Blick auf All­tags­mo­men­te. Sie reagier­te mit der Kame­ra schnell und eigen­stän­dig, ohne dass gro­ße Wor­te gemacht wer­den muss­ten. Das alles wol­len wir an die­sem Abend mit dem Publi­kum, mit Weg­ge­fähr­tin­nen und Weg­ge­fähr­ten tei­len. Als ich im Novem­ber 2020 mit ihr ein lan­ges Gespräch über ihren Wer­de­gang, ihre Arbeits­bio­gra­fie, den Ent­ste­hungs­pro­zess des Ost-West-Kol­lek­tiv­films BER­LIN, BAHN­HOF FRIED­RICH­STRAS­SE 1990 (bei des­sen Dreh­ar­bei­ten ich Julia ken­nen­lern­te) führ­te, war da zunächst ihre zurück­hal­ten­de Beschei­den­heit. Dann spra­chen wir über den Kina­mo, die klei­ne 35mm-Hand­auf­zugs­ka­me­ra, die der Inge­nieur Ema­nu­el Gold­berg in den zwan­zi­ger Jah­ren in Dres­den ent­wi­ckelt hat­te. Und über das Pio­nier­film­stu­dio Leip­zig, über Joris Ivens im Auf­zug wäh­rend der Dok­wo­che in Leip­zig, Juli­as Stu­di­en­zeit, ihr Arbeits­le­ben, über den gemein­sa­men Film­dreh. Die­ses Gespräch gibt es nun zum Glück.

Wir laden ein zu die­sem gemein­sam zusam­men­ge­stell­ten Pro­gramm: Zwei Fil­me (WAN­DER­ZIR­KUS, 1977, JACKI, 1977) sind in Zusam­men­ar­beit mit der Regis­seu­rin Ange­li­ka And­rees an der Hoch­schu­le für Film und Fern­se­hen in Babels­berg ent­stan­den. Der erst kürz­lich digi­ta­li­sier­te Film MEI­NIN­GEN-MEI­NIN­GEN (1981), den Julia zusam­men mit Gud­run Stein­brück gedreht hat – ist eben­falls eine HFF-Pro­duk­ti­on. Ein­ge­rahmt ist das Pro­gramm von zwei Fil­men, die Juli­as Ehe­frau Teo­do­ra Ansal­do gut erhal­ten in einem Metall­schrank gefun­den hat: In BEI FREUN­DEN ZU GAST. EIN REI­SE­BE­RICHT DES PIO­NIER­FILM­STU­DI­OS AUS JUGO­SLA­WI­EN sehen wir Julia 1965 in tat­kräf­ti­ger Begeis­te­rung als Zwölf­jäh­ri­ge im Pio­nier­film­stu­dio Leip­zig, dort wo sie mit neun Jah­ren ihre Lei­den­schaft für die Kame­ra ent­deckt hat­te. Der Film han­delt in strah­len­den Far­ben von einer Jugo­sla­wi­en­rei­se und von der Bespre­chung der Rei­se­ein­drü­cke zurück in Leip­zig. In der Kame­ra­übung MZ von 1974 filmt Julia Kun­ert vom Rück­sitz des Motor­rads eine rasan­te Fahrt: mit gro­ßer Lust an der Bewe­gung, am Vor­bei­glei­ten der Land­schaft, aber auch an der Schön­heit des tech­ni­schen Geräts. Ganz kurz ist Julia zu sehen. Am 12. Febru­ar hät­te sie ihren 70. Geburts­tag gefei­ert. (Made­lei­ne Bernstorff)

zum Kurz­film­pro­gramm:

BEI FREUN­DEN ZU GAST. Pio­nier­film­stu­dio Leip­zig, 16mm, 12 min

Ein Rei­se­be­richt des Pio­nier­film­stu­di­os Leip­zig aus Jugo­sla­wi­en. 1965

JACKI, DDR 1977 (HHF), 30 min, R: Ange­li­ka And­rees, K: Julia Kunert

Der kes­sen 14-jäh­ri­gen Jacki nähert sich And­rees’ Diplom­ar­beit an Hoch­schu­le für Film und Fern­se­hen der DDR vor allem über das sozia­le Umfeld: die stra­pa­zier­te Patch­work­fa­mi­li­en-Mut­ter, der eigen­bröt­le­ri­sche Fern­fah­rer-Stief­va­ter, die eklek­ti­sche Nach­bar­schaft. Je näher der Film sei­nen Figu­ren kommt, des­to frei­er agiert die Kame­ra von Julia Kun­ert, glei­tet wie in Tran­ce durch ein Ate­lier oder fliegt über die nächt­li­che Schnell­stra­ße wie über eine Ufo-Lan­de­bahn. (Felix Men­de, DOK Leip­zig 22)

WAN­DER­ZIR­KUS, DDR 1977 (HHF), 20 min

Regie: Ange­li­ka And­rees, K: Julia Kun­ert, K‑Assistenz: Tho­mas Plenert

Ins Dorf rollt: Zir­kus Hein. Ange­li­ka And­rees inter­es­siert sich für die ein­zel­nen Num­mern, die in der Mane­ge prä­sen­tiert wer­den. Aber noch mehr für das, was davor und danach pas­siert. Oder wie das Publi­kum von unten aus­sieht, wenn sich diver­se Hin­ter­tei­le auf den Holz­bän­ken her­um­drü­cken. Dazu kla­ckert und klopft es manch­mal, oder Regen plät­schert, und zum Schluss singt Bob Dyl­an. WAN­DER­ZIR­KUS ent­steht noch an der Film­hoch­schu­le Babels­berg. And­rees pro­biert sich an ver­schie­de­nen Ele­men­ten, wech­selt den Ton­fall und erfasst so die Stim­mun­gen, die sich um die fah­ren­de Attrak­ti­on bün­deln. Ganz ohne Kom­men­tar, mit weni­gen, kur­zen Inter­view­se­quen­zen fügt sich ein Por­trät. (Caro­lin Weid­ner, DOK Leip­zig 22)

MEI­NIN­GEN- MEI­NIN­GEN, DDR 1981 (HHF), 29 min

R: Julia Kun­ert, Gud­run Stein­brück, K: Julia Kunert

All­tag der Mitro­pa­kell­ner im Schnell­zug Berlin-Meiningen-Berlin.

MZ, DDR 1974 (Frag­ment), 16mm, stumm, ca. 6 min. Film­res­te: Julia Kunert

Bio­gra­fie:

Julia Kun­ert (12. 2. 1953 – 13. 11. 2022) ist auf­ge­wach­sen in Leip­zig. Mit 10 Jah­ren dreh­te sie 16mm-Fil­me im Pio­nier­film­stu­dio Leip­zig. Mit der Pio­nier­film­grup­pe (Lei­tung: Eva-Maria Drink­ler) besucht sie regel­mä­ßig die Dok­wo­che Leip­zig. „Ich bin mit Joris Ivens im Fahr­stuhl gefah­ren!“ Nach dem Volon­ta­ri­at beim Deut­schen Fern­seh­funk Stu­di­um der Fach­rich­tung Kame­ra, stu­diert sie 1972–1976 an der HFF Babels­berg, 1979/80 als Meis­ter­schü­le­rin. Sie ist Kame­ra­frau bei Ange­li­ka And­rees für WAN­DER­ZIR­KUS (1977), JACKI (1977) und für HEIM (mit Tho­mas Ple­nert, 1978), der ver­bo­ten wur­de und erst 1990 auf­ge­führt wer­den konn­te. 1981 ist sie ein Jahr lang Gast als ein­zi­ge Kame­ra­frau im DEFA-Doku­men­tar­film­stu­dio, und dreht dort Fil­me mit Rai­ner Acker­mann, Armin Geor­gi, Peter Rocha. 1982–1989 arbei­tet sie als Kame­ra­frau im Fern­se­hen der DDR, ab Novem­ber 1989 DFF. 1986 erschien ihr Text „Kas­set­ten­wech­sel“ in der Zeit­schrift „Film und Fern­se­hen“ zu Fra­gen der Ver­ant­wor­tung für Protagonist_​innen im Doku­men­tar­film. 1989/1990 Aus­wahl­ko­mi­tee Dok­wo­che Leip­zig. 1990–1992 Dozen­tin für Kame­ra an der HFF Kon­rad Wolf in Babels­berg. Danach frei­be­ruf­lich, 3 Spiel­fil­me, 22 Doku­men­tar­fil­me, Arbeit beim RBB-Fern­se­hen in Zusam­men­ar­beit mit Kon­stan­ze Weid­haas. Bei dem Gemein­schafts­pro­jekt BER­LIN, BAHN­HOF FRIED­RICH­STRAS­SE 1990 (R + K: Kon­stan­ze Bin­der, Lil­ly Gro­te, Julia Kun­ert, R + P: Ulri­ke Her­din, ZDF Klei­nes Fern­seh­spiel, Schnitt: Yvonne Loquens) ist sie betei­ligt als Kame­ra­frau, Regis­seu­rin und beim Schnitt, die Pre­mie­re fin­det auf der Ber­li­na­le 1991 statt. Mit Lil­ly Gro­te arbei­tet sie an der Tri­lo­gie zu Kin­dern aus Nami­bia, die in Staß­fur­t/­Sach­sen-Anhalt auf­wuch­sen und nach der Wen­de nach Nami­bia zurück­kehr­ten (1990–1992, Pro­duk­ti­on DFF, DEFA-Dok, Alert-Film). Außer­dem Kame­ra­ar­beit für Hel­ke Mis­sel­witz, Petra Tschört­ner, Ula Stöckl, Sophie Kotanyi, Tre­vor Peters, Serap Berrak­ka­ra­su, Teo­do­ra Ansaldo.