Gehen und Bleiben

Deutsch­land 2023, 168 min, deut­sche Originalfassung

Regie: Vol­ker Koepp

Men­schen, Orte und Land­schaf­ten im Nord­os­ten Deutsch­lands, „wo der Wind grau und rauh vom Meer ins Land fällt“, wie der Schrift­stel­ler Uwe John­son schrieb. Auch von ihm, einem der bedeu­tends­ten deut­schen Nach­kriegs­au­toren, erzählt die­ser Film.

Uwe John­son wur­de 1934 in Cammin, in Pom­mern, dem heu­te pol­ni­schen Kamień Pomor­ski an der Ost­see gebo­ren und starb 1984 mit nur 49 Jah­ren im eng­li­schen Sheer­ness-on-Sea an der Nord­see. Die meck­len­bur­gi­sche und pom­mer­sche Her­kunft blieb für ihn lebens­lang ein wich­ti­ger lite­ra­ri­scher Bezugs­punkt. Erst recht, nach­dem er 1959 die DDR ver­las­sen hat­te und fort­an in West-Ber­lin, New York und Eng­land leb­te. Moti­ve des Gehens und Blei­bens durch­zie­hen sein Werk eben­so wie die Aus­ein­an­der­set­zung mit deut­scher Geschich­te, dem Zwei­ten Welt­krieg, deut­scher Schuld und den „wei­te­ren Fol­gen des Krie­ges“, wie er es nann­te. Hin­zu kom­men Erfah­run­gen als Schü­ler, Stu­dent und ange­hen­der Schrift­stel­ler in der frü­hen DDR.

Vol­ker Koepp reist mit Tex­ten Uwe John­sons in des­sen bio­gra­fi­sche und lite­ra­ri­sche Gegen­den. Etwa in die Fluss- und Seen­land­schaft Meck­len­burg-Vor­pom­merns zwi­schen Anklam und Güs­trow und den nord­öst­li­chen Zip­fel Meck­len­burgs, den Klüt­zer Win­kel oder auf das Fisch­land an der Ost­see bei Ahrens­hoop. Hier begeg­net er Men­schen in ihrem gegen­wär­ti­gen Leben. Sie erzäh­len von ihren Erin­ne­run­gen, vom Gehen und Blei­ben, vom Aus­har­ren an den Orten der Her­kunft, vom Fort­zie­hen und auch von Uwe Johnson.

„Gehen und Blei­ben“ ent­stand in der Wirk­lich­keit der Jah­re 2020 bis 2022, wäh­rend der Pan­de­mie und der Aus­wei­tung des rus­si­schen Krie­ges auf die gesam­te Ukrai­ne. Auf sei­ner Fahrt durch die Zeit fragt der Film, wel­che Bedeu­tung die Ver­gan­gen­heit für das gegen­wär­ti­ge Leben hat und wie ein hoff­nungs­vol­ler Blick auf die Zukunft mit Moti­ven des Gehens und Blei­bens zusam­men­hängt. Text­zi­ta­te Uwe John­sons eröff­nen dabei einen fil­mi­schen Erzähl­raum, der Geschich­te und Gegen­wart gedank­lich und sinn­lich zusam­men­führt. Wie neben­bei ent­steht so auch ein frag­men­ta­ri­sches Lebens­bild des Schrift­stel­lers Uwe John­son und eine Annä­he­rung an sein Werk.

Der Film beschäf­tigt sich umher­strei­fend mit dem, was den Autor in der Spra­che hielt, auch als er aus der Land­schaft fort­ge­gan­gen war. Er zieht durch den meck­len­bur­gi­schen Wind, führt in Ber­li­ner Zim­mer und auf den Leip­zi­ger Haupt­bahn­hof. Drei Stun­den rei­cher Ein­drü­cke sind das, drei Stun­den, wäh­rend derer sich das Notiz­buch auf den Knien mit immer mehr Hin­wei­sen füllt zum Wei­ter­le­sen und Rei­sen.” (Cor­ne­lia Geiß­ler, Ber­li­ner Zeitung)

„Ich war 2018 zur Pre­mie­ren­fahrt unse­res Films SEE­STÜCK unter­wegs. Nach der Vor­füh­rung in Ros­tock bekam ich ein Buch geschenkt: Die Ost­see – Berich­te und Geschich­ten aus 2000 Jah­ren. Dar­in ist auch ein Text aus Uwe John­sons Roman­zy­klus Jah­res­ta­ge. Aus dem Leben von Gesi­ne Cress­pahl ent­hal­ten (…). Die Wie­der­be­geg­nung mit dem Schrift­stel­ler Uwe John­son war für mich beson­ders: Es schien so, als hät­te hier ein Über­le­ben­der des Krie­ges ver­sucht, gegen das Ver­ges­sen anzu­schrei­ben. Die Gegen­wart des Jah­res 2018 aber war von Geschichts­ver­ges­sen­heit geprägt und die Hoff­nun­gen der 90er Jah­re des vori­gen Jahr­hun­derts waren nach dem schein­ba­ren Ende des Kal­ten Krie­ges auf eine fried­li­che­re Welt längst wie­der ver­flo­gen. Es hat­te Tsche­tsche­ni­en gege­ben und Geor­gi­en, und Russ­land hat­te zuletzt auch die Krim annek­tiert. Nur weni­ge Sei­ten vor Uwe John­sons Bericht über die Cap Arco­na gibt es im Roman eine Unter­hal­tung am 5. Mai 1968 zwi­schen Gesi­ne Cress­pahl und ihrer Toch­ter Marie über die Fra­ge, ob sowje­ti­sche Pan­zer – wie schon 1956 in Buda­pest – in Prag ein­rü­cken oder ob ledig­lich Manö­ver statt­fin­den wer­den. Die Aktua­li­tät die­ser Fra­ge­stel­lung beein­druck­te mich. (…) Ich stell­te fest, dass ich vie­le der Orte, die in sei­nem Werk auf­tau­chen, schon gese­hen hat­te. Natür­lich beweg­te mich auch eine beson­de­re Art von bio­gra­fi­scher Nähe zu Uwe John­son. (…) John­sons Bezie­hung zu den Land­schaf­ten sei­ner pom­mer­schen und meck­len­bur­gi­schen Hei­mat, sei­ne Auf­ar­bei­tung der Nach­kriegs­zeit, sein „Gehen und Blei­ben“. Vie­le Land­schaf­ten hat­te ich schon in sei­nen Gegen­den gedreht und ich habe oft erlebt, dass die Men­schen, denen ich in den Dör­fern begeg­ne­te, erst nach 1945 hier hei­misch wur­den. (…)

Die Pan­de­mie sorg­te nach Dreh­be­ginn immer wie­der für Unter­bre­chun­gen. Die gegen­wär­ti­gen Ent­wick­lun­gen der Jah­re 2020 bis 2023 waren plötz­lich sehr eng mit dem Werk Uwe John­sons ver­bun­den. Die zer­schla­ge­nen Hoff­nun­gen der Frau­en in Bela­rus und die Ankün­di­gung von rus­si­schen Manö­vern. Schließ­lich, am 24. Febru­ar 2022, die Aus­wei­tung des Über­falls Russ­lands auf die gesam­te Ukrai­ne. Jetzt, zu Beginn des Jah­res 2023, scheint es so, als hät­te es nie ein Kriegs­en­de gege­ben.“ (Vol­ker Koepp)