Dou­ble Fea­ture: SON OF A PUBLIC ENEMY + 5TH PARA­GRAPH INVALIDS

JFBB Sek­ti­on: BRUCH ODER KON­TI­NUI­TÄT? “ANTI­ZIO­NIS­MUS” UND ANTI­SE­MI­TIS­MUS IM SOZIA­LIS­MUS UND DANACH

SON OF A PUBLIC ENEMY
Eva Toma­no­vá, CZ 2022, 53 min, Dok, OmU (Eng­lisch + Deutsch)
Sprach­fas­sung: Tschechisch

Mehr­fa­ches Fami­li­en­schick­sal: Fast die gesam­te Fami­lie von Karel Šling wur­de in der Sho­ah ermor­det, sein Vater im Rah­men der Sláns­ký-Schau­pro­zes­se zum Tode ver­ur­teilt. Sohn Karel begibt sich gemein­sam mit sei­nen Kin­dern und Enkel­kin­dern auf Spu­ren­su­che. Dabei wer­den auch inter­ge­ne­ra­tiv ver­erb­te Trau­ma­ta reflektiert.

Karel Šlings Vater, der tsche­cho­slo­wa­ki­sche KP-Funk­tio­när Otto Šling, gehör­te zu den Ange­klag­ten der Schau­pro­zes­se gegen ins­ge­samt 14 Funk­tio­nä­re, die den dama­li­gen kom­mu­nis­ti­schen Macht­ha­bern ein Dorn im Auge waren. Nicht, weil sie zu libe­ral gewe­sen wären, im Gegen­teil waren vie­le der Ange­klag­ten als Hard­li­ner bekannt. Eher ging es um inter­ne Macht­spie­le, um exter­ne Macht­de­mons­tra­ti­on – und dar­um, den in Mos­kau regie­ren­den Sta­li­nis­ten ent­ge­gen­zu­kom­men. Elf der Ange­klag­ten wur­den unter dem faden­schei­ni­gen Vor­wurf, sich dem ame­ri­ka­ni­schen Impe­ria­lis­mus, dem Tito­is­mus und dem Zio­nis­mus ver­schrie­ben zu haben, abge­ur­teilt und hin­ge­rich­tet, die meis­ten davon Juden. Der Film gibt einen Ein­druck von der dama­li­gen Atmo­sphä­re, beschreibt den Druck und die psy­cho­lo­gi­sche Fol­ter, der auf die einst mäch­ti­gen KP-Kader aus­ge­übt wur­de. Und auch die anti­se­mi­ti­sche Het­ze, mit der im Land Stim­mung gemacht wur­de. Karel Šling gehör­te 1977 zu den Unter­zeich­nern der Char­ta 77, in der sich Intel­lek­tu­el­le und Dis­si­den­ten aus ganz Ost­eu­ro­pa gegen das tota­li­tä­re Will­kürsys­tem im real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus aus­spra­chen. 1984 emi­grier­te er nach Groß­bri­tan­ni­en. Bis heu­te schleppt er nicht nur die Trau­ma­ta der Sho­ah mit sich, son­dern auch die Erin­ne­rung an die Hin­rich­tung sei­nes Vaters – von der er als Kind zunächst glaub­te, sie sei gerecht­fer­tigt. Heu­te fragt er sich, ob er mit sei­ner Emi­gra­ti­on in den Wes­ten – Mit­te der 1980er-Jah­re stand die Mau­er, an ein Wie­der­se­hen mit sei­ner Fami­lie war also nicht zu den­ken – den eige­nen Ver­lust des Vaters mit ver­tausch­ten Rol­len noch ein­mal nach­voll­zo­gen hat.

Hier kommt Regis­seu­rin Eva Toma­no­vá auch auf epi­ge­ne­ti­sche For­schun­gen zu spre­chen, bei denen phy­si­sche Ver­än­de­run­gen im Gehirn bei von Stress Trau­ma­ti­sier­ten fest­ge­stellt wur­den. Sie stellt die The­se von der Trau­ma­ti­sie­rung gan­zer Natio­nen in den Raum, die unter dem Ein­druck von Gewalt­er­fah­run­gen, Krie­gen und Tota­li­ta­ris­mus unter kol­lek­ti­ven Stress gerie­ten. Damit ver­bin­det sie die inves­ti­ga­ti­ve Spu­ren­su­che mit der Fra­ge, wie sich his­to­ri­sche Gewalt­er­fah­run­gen auf gegen­wär­ti­ge gesell­schaft­li­che Hal­tun­gen aus­wir­ken. Prä­gen die damit ver­bun­de­nen Trau­ma­ta nicht nur indi­vi­du­el­le, son­dern auch kol­lek­ti­ve Stress­ver­ar­bei­tungs­me­cha­nis­men? Wie wirkt sich das auf die Bio­gra­fie des Ein­zel­nen aus, und wie auf die poli­ti­sche Kul­tur der betrof­fe­nen Gesellschaften?

Text: Bernd Buder


5TH PARA­GRAPH INVA­LIDS
Boris Mafts­ir, IL, 2023, 52 Min, Dok, OmU (Eng­lisch + Deutsch)
Sprach­fas­sung: Rus­sisch, Hebräisch

In der Sowjet­uni­on waren alle Bürger*innen gleich – theo­re­tisch. Denn als Jude oder Jüdin wur­de man per se ver­däch­tigt, der UdSSR gegen­über illoy­al zu sein. Mit der Ein­tra­gung „jew­rej“ im Feld 5 des Aus­wei­ses war man auto­ma­tisch stig­ma­ti­siert. Betrof­fe­ne erin­nern sich.

In einer Col­la­ge aus Archiv­ma­te­ri­al, Fotos und Zoom-Inter­views ent­wirft der Film ein Pan­ora­ma der Juden­feind­lich­keit in der UdSSR zwi­schen 1950 und 1990. Dabei pral­len zwei Nar­ra­ti­ve auf­ein­an­der: die offi­zi­el­le Pro­pa­gan­da von einem Land, in dem angeb­lich alle Spra­chen und Kul­tu­ren gleich­wer­tig neben­ein­an­der­stan­den und Berich­te über die all­ge­gen­wär­ti­ge Dis­kri­mi­nie­rung.
Die befrag­ten Zeit­zeu­g­in­nen, die in den frü­hen 1990er-Jah­ren nach Isra­el aus­wan­der­ten, gin­gen auf unter­schied­li­che Wei­se mit Belei­di­gun­gen, Über­grif­fen und Benach­tei­li­gun­gen um – man­che ver­heim­lich­ten ihr Jüdisch­sein, ande­re zeig­ten ihre jüdi­sche Iden­ti­tät mit Stolz und lern­ten, sie not­falls mit Fäus­ten zu ver­tei­di­gen. Doch sie alle muss­ten erfah­ren, dass sie auch als gut inte­grier­te Sowjet­bür­ge­rin­nen von ihren Mitbürger*innen und Behör­den als Men­schen zwei­ter Klas­se abge­stem­pelt wer­den – bis­wei­len im Wort­sin­ne.
Aus der Poly­pho­nie der Stim­men formt sich eine gemein­sa­me Aus­sa­ge: Nie­mand sprach laut über den omni­prä­sen­ten Anti­se­mi­tis­mus, aber alle wuss­ten davon.

Text: Rai­ner Mende