Kurzfilmprogramm – Werkstattgespräch – EINTRITT FREI
Zur Entgegennahme eines Preises der DEFA-Stiftung standen wir schon einmal zusammen auf einer Bühne. Für das heraufschauende Publikum muss komisch ausgesehen haben. Tommys Figur ruhte massig ruhig und schwer, ich daneben spindeldürr, aufgeregt, unstetig wie eine Fliege. Fliegen können 200 Bilder pro Sekunde erkennen. Menschen weniger als achtzehn. Werden es mehr, erzeugt das menschliche Gehirn im Kopf eine fließende Bewegung. Für das Kino dreht Thomas Plenert mit 24 Bildern pro Sekunde. Auf dem Podium, neben ihm, nahm ich angeregt durch das Adrenalin und die Aufregung gefühlt mindestens 220 Bilder pro Sekunde wahr. Seine Augen wahrscheinlich weniger als zehn, vielleicht auch nur drei oder eins pro Sekunde. Auf die Frage, wie er bei einem bestimmten Film gearbeitet habe, erzählte er einmal, er selbst liege meist hinten im Auto und döse vor sich hin. Der Regisseur sitze derweil vorn, sage ab und an, was zu sehen sei, und er würde mittlerweile am Tonfall der Stimme erkennen, was man tatsächlich drehen müsste, wann es sich also wirklich lohne, selbst die Augen zu öffnen. Nach meiner Vorstellung blinzelt er nur.
Obwohl auch beim Dokumentarfilm Absprachen existieren, lebt dieser doch vom unvorhersehbaren, vom geglückten Moment. Die Zeit, solche Momente einzufangen war früher vom vorher eingekauften Filmmaterial und dessen Laufzeiten bis zum Kassettenwechsel begrenzt. Ohne solche Einschränkungen dürfte das Drehen heute einfacher geworden sein. Doch den richtigen Augenblick findet eben nicht der, der die digitale Kamera ein und danach lange einfach nicht wieder ausschaltet. Doch wie entscheidet man über den richtigen Zeitpunkt, woher weiß man, ob man mitten im Gespräch plötzlich irgendwo hinschwenken, auf irgendetwas Unvorhergesehenes reagieren muss? Fliegen können 200 Bilder pro Sekunde erkennen. Sie reagieren wahnsinnig schnell, sind immer besser und früher informiert. Aus der gemeinsamen Situation auf der Bühne weiß ich, dass meine Augen in bestimmten Situationen mindestens ebenso viele Bilder wahrnehmen können. Hätte ich vielleicht deshalb Kameramann werden sollen? Sehe ich allein deshalb wirklich mehr?
Als Kameramann zeichnet Thomas Plenert Bewegungen für das Kino auf. Die ersten Apparate dazu hießen wie die Abspielstätten Kinematographen, waren also Geräte, die die Kinesis, also Bewegung aufnehmen konnten. Aristoteles versteht unter Bewegung (altgriechisch: κίνησις kínēsis) jegliche Art von Veränderung. Bewegung ist für ihn das endlich zur-Wirklichkeit-Kommen eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches ist. Als Kameramann muss man vielleicht das Wesen seines Gegenübers, der Situation erkennen, das der Möglichkeit nach Vorhandene. Es geht um die Wahrnehmung eines Bildes und das zur Wirklichkeit Kommen der darin steckenden Möglichkeiten, nicht um 200 Frames. Thomas Plenert will wahrscheinlich überhaupt nicht wissen, wie etwas ausgeht. Wie etwas ausgeht, kann auch wirklich niemand sagen. Man kann aber aus den Bildern herausholen, was in den Bildern angelegt ist. Thomas Plenert erkennt beim Dokumentarfilmen das der Möglichkeit nach Vorhandene. Er ruht in sich, blinzelt und „führt“ die unvorhersehbaren potentiellen Möglichkeiten “schlafwandlerisch zusammen”*. Keiner Fliege gelingt das! Einer Fliege gelingt das nie. Und das Brummen einer Fliege wird ihn nicht stören. Wenigstens nicht, solange die Kamera läuft. (gh)
* Der Autor dankt Barbara Frankenstein für die schöne Formulierung.
„Für Thomas Plenert ist die Kamera kein Instrument, sondern ein Organ, ein lebenswichtiges. Wie sollte man sonst seine Unleidlichkeit erklären, wenn mal kein Dreh in Aussicht ist. Wie sollte man sonst erklären, wie vertrauensvoll die Menschen sich diesem Kameramann hingeben für das Bild, das er von Ihnen macht. (…) Tommys Humor und sein nicht enden wollendes Lachen sind überwältigend. Ich erinnere mich an einen Morgen an der Oder, als wir auf den magischen Moment warteten, um Tausende von der Wasseroberfläche startende Gänse zu drehen. Just in dem Augenblick fielen ihm die vergeblichen Verführungskünste einer Ukrainerin aus dem Quartier ein, in dem wir die Nacht verbrachten, das gleichzeitig ein Bordell war. Mit laufender Kamera im Arm zu lachen und dennoch ein bleibendes Bild zu machen, wer kann das schon. Nur einer, für den die Kamera kein Instrument, sondern ein Organ, das gleichsam Herzschlag und Seele ist.“ (Helke Misselwitz, Laudatio für Thomas Plenert, Preis der DEFA-Stiftung zur Förderung der Filmkunst, 2008)
zu den Filmen:
BEI OSSI, DDR 1977–1980 (HHF), 25 min, s/w
Regie: Gabriele Denecke, Kamera: Thomas Plenert
Es war kurz vor Weihnachten, 1977, als wir „Bei Ossi“ zu drehen begannen. Von der Filmhochschule hatten wir ein paar Rollen 16mm Material bekommen, eine Kamera und das Tonequipment. Wir luden alles in einen Handwagen und zogen los. Ich weiß nicht, was der Kneipenbesitzer Jossupeit dachte, als wir so bei ihm aufkreuzten. Jedenfalls ließ er sich nichts anmerken und wir konnten drehen. Eigentlich hieß die Kneipe „Bei Jossupeit“, aber alle nannten sie nur „Bei Ossi“. „Bei Ossi“ lag im Erdgeschoss eines alten Berliner Mietshauses. Wenn man aus dem Ostbahnhof trat, fiel man einmal lang hin und schon war man drin in dem schwülen, schmalen Kneipenraum, wo morgens um neun die Tür aufflog und die Arbeiter von der Nachtschicht auf dem Wriezener Bahnhof rein stolperten. Sie warfen Geld in die Musikbox, drückten auf den Titel „Tanze Samba mit mir, tanze Samba die ganze Nacht“ und tranken ihr erstes Bier. Wir trafen Neubau-Dieter, den alle so nannten, weil er im Neubau gleich hinter der Kneipe wohnte. Er erzählte von seiner Brigade, von den Jungs, auf die man sich verlassen konnte, vor allem, wenn‘s einem nicht gut ging, von seinem Traum – einem kleinen Garten mit Laube und von Helga, seiner zweiten Frau. Die erste war früh gestorben, und Neubau-Dieter stand mit drei kleinen Kindern allein da. Jetzt waren sie groß, heirateten und bekamen selbst Kinder. Ewiges Thema „Bei Ossi“ war der Westen, der nur 300 Meter weiter begann und doch unerreichbar blieb. Manchmal kamen die Arbeiter kurz vor der Nachtschicht wieder mit ihren Frauen vorbei, auf ein Bier und einen Tanz. Es war rauchig und schmutzig, aber es fühlte sich gut an, für ein paar Wochen zu ihnen zu gehören. Die haute nichts um.
Es waren die letzten Tage der alten Berliner Kneipe. 1978 wurde „Bei Ossi“ geschlossen, 1980 gesprengt. (Gabriele Denecke)
HEIM, DDR 1978/1990, 26 min, Regie: Angelika Andrees
HEIM ist ein unfertiger Film über Kinder im Heim. Die Arbeit am Filmschnitt wurde 1978 durch die Defa Direktion abgebrochen, der Film landete unter “Verschluss”, wurde verboten und nie fertiggestellt. Der Grund: Die große Leistung des Bildungsministeriums, dem Kinderheime damals unterstanden, wurde in dem Film nicht gewürdigt.
Das Kinderheim – ein großes Landschloss in Mecklenburg. Ein Schloss mit Park und voller ausgestoßener Kinder. Die Sommerferien stehen bevor. Die Schule ist vorbei. In drei Tagen heißt es Abschied nehmen. Dann reisen die meisten Kinder ab in die Ferien nach Hause zu den Eltern. Sechs Tage begleitet der Film die Kinder in ihrem Heim-Alltag und bei ihren Vorbereitungen. Kinder zwischen 6 und 16 Jahren, die spielen, toben und herumlungern. Kinder, die uns von ihrem Schicksal berichten. (Angelika Andrees)
DÖSCHERS (ndt. DRESCHER), DDR 1977 (HFF), 35mm, 23 min
Regie: Hannes Schönemann, Kamera: Thomas Plenert
Sommer1977. Eine Erntekampagne, unsere werktätigen Bauern können nicht nur arbeiten, sie können auch feiern, hieß es damals.