Kame­ra Tho­mas Ple­nert: frü­he Fil­me um 1977

Kurz­film­pro­gramm – Werk­statt­ge­spräch – EIN­TRITT FREI

Zur Ent­ge­gen­nah­me eines Prei­ses der DEFA-Stif­tung stan­den wir schon ein­mal zusam­men auf einer Büh­ne. Für das her­auf­schau­en­de Publi­kum muss komisch aus­ge­se­hen haben. Tom­mys Figur ruh­te mas­sig ruhig und schwer, ich dane­ben spin­del­dürr, auf­ge­regt, unste­tig wie eine Flie­ge. Flie­gen kön­nen 200 Bil­der pro Sekun­de erken­nen. Men­schen weni­ger als acht­zehn. Wer­den es mehr, erzeugt das mensch­li­che Gehirn im Kopf eine flie­ßen­de Bewe­gung. Für das Kino dreht Tho­mas Ple­nert mit 24 Bil­dern pro Sekun­de. Auf dem Podi­um, neben ihm, nahm ich ange­regt durch das Adre­na­lin und die Auf­re­gung gefühlt min­des­tens 220 Bil­der pro Sekun­de wahr. Sei­ne Augen wahr­schein­lich weni­ger als zehn, viel­leicht auch nur drei oder eins pro Sekun­de. Auf die Fra­ge, wie er bei einem bestimm­ten Film gear­bei­tet habe, erzähl­te er ein­mal, er selbst lie­ge meist hin­ten im Auto und döse vor sich hin. Der Regis­seur sit­ze der­weil vorn, sage ab und an, was zu sehen sei, und er wür­de mitt­ler­wei­le am Ton­fall der Stim­me erken­nen, was man tat­säch­lich dre­hen müss­te, wann es sich also wirk­lich loh­ne, selbst die Augen zu öff­nen. Nach mei­ner Vor­stel­lung blin­zelt er nur.

Obwohl auch beim Doku­men­tar­film Abspra­chen exis­tie­ren, lebt die­ser doch vom unvor­her­seh­ba­ren, vom geglück­ten Moment. Die Zeit, sol­che Momen­te ein­zu­fan­gen war frü­her vom vor­her ein­ge­kauf­ten Film­ma­te­ri­al und des­sen Lauf­zei­ten bis zum Kas­set­ten­wech­sel begrenzt. Ohne sol­che Ein­schrän­kun­gen dürf­te das Dre­hen heu­te ein­fa­cher gewor­den sein. Doch den rich­ti­gen Augen­blick fin­det eben nicht der, der die digi­ta­le Kame­ra ein und danach lan­ge ein­fach nicht wie­der aus­schal­tet. Doch wie ent­schei­det man über den rich­ti­gen Zeit­punkt, woher weiß man, ob man mit­ten im Gespräch plötz­lich irgend­wo hin­schwen­ken, auf irgend­et­was Unvor­her­ge­se­he­nes reagie­ren muss? Flie­gen kön­nen 200 Bil­der pro Sekun­de erken­nen. Sie reagie­ren wahn­sin­nig schnell, sind immer bes­ser und frü­her infor­miert. Aus der gemein­sa­men Situa­ti­on auf der Büh­ne weiß ich, dass mei­ne Augen in bestimm­ten Situa­tio­nen min­des­tens eben­so vie­le Bil­der wahr­neh­men kön­nen. Hät­te ich viel­leicht des­halb Kame­ra­mann wer­den sol­len? Sehe ich allein des­halb wirk­lich mehr?

Als Kame­ra­mann zeich­net Tho­mas Ple­nert Bewe­gun­gen für das Kino auf. Die ers­ten Appa­ra­te dazu hie­ßen wie die Abspiel­stät­ten Kine­ma­to­gra­phen, waren also Gerä­te, die die Kine­sis, also Bewe­gung auf­neh­men konn­ten. Aris­to­te­les ver­steht unter Bewe­gung (alt­grie­chisch: κίνησις kínē­sis) jeg­li­che Art von Ver­än­de­rung. Bewe­gung ist für ihn das end­lich zur-Wirk­lich­keit-Kom­men eines bloß der Mög­lich­keit nach Vor­han­de­nen, inso­fern es eben ein sol­ches ist. Als Kame­ra­mann muss man viel­leicht das Wesen sei­nes Gegen­übers, der Situa­ti­on erken­nen, das der Mög­lich­keit nach Vor­han­de­ne. Es geht um die Wahr­neh­mung eines Bil­des und das zur Wirk­lich­keit Kom­men der dar­in ste­cken­den Mög­lich­kei­ten, nicht um 200 Frames. Tho­mas Ple­nert will wahr­schein­lich über­haupt nicht wis­sen, wie etwas aus­geht. Wie etwas aus­geht, kann auch wirk­lich nie­mand sagen. Man kann aber aus den Bil­dern her­aus­ho­len, was in den Bil­dern ange­legt ist. Tho­mas Ple­nert erkennt beim Doku­men­tar­fil­men das der Mög­lich­keit nach Vor­han­de­ne. Er ruht in sich, blin­zelt und „führt“ die unvor­her­seh­ba­ren poten­ti­el­len Mög­lich­kei­ten “schlaf­wand­le­risch zusam­men”*. Kei­ner Flie­ge gelingt das! Einer Flie­ge gelingt das nie. Und das Brum­men einer Flie­ge wird ihn nicht stö­ren. Wenigs­tens nicht, solan­ge die Kame­ra läuft. (gh)

* Der Autor dankt Bar­ba­ra Fran­ken­stein für die schö­ne Formulierung.

„Für Tho­mas Ple­nert ist die Kame­ra kein Instru­ment, son­dern ein Organ, ein lebens­wich­ti­ges. Wie soll­te man sonst sei­ne Unleid­lich­keit erklä­ren, wenn mal kein Dreh in Aus­sicht ist. Wie soll­te man sonst erklä­ren, wie ver­trau­ens­voll die Men­schen sich die­sem Kame­ra­mann hin­ge­ben für das Bild, das er von Ihnen macht. (…) Tom­mys Humor und sein nicht enden wol­len­des Lachen sind über­wäl­ti­gend. Ich erin­ne­re mich an einen Mor­gen an der Oder, als wir auf den magi­schen Moment war­te­ten, um Tau­sen­de von der Was­ser­ober­flä­che star­ten­de Gän­se zu dre­hen. Just in dem Augen­blick fie­len ihm die ver­geb­li­chen Ver­füh­rungs­küns­te einer Ukrai­ne­rin aus dem Quar­tier ein, in dem wir die Nacht ver­brach­ten, das gleich­zei­tig ein Bor­dell war. Mit lau­fen­der Kame­ra im Arm zu lachen und den­noch ein blei­ben­des Bild zu machen, wer kann das schon. Nur einer, für den die Kame­ra kein Instru­ment, son­dern ein Organ, das gleich­sam Herz­schlag und See­le ist.“ (Hel­ke Mis­sel­witz, Lau­da­tio für Tho­mas Ple­nert, Preis der DEFA-Stif­tung zur För­de­rung der Film­kunst, 2008)

zu den Filmen:

BEI OSSI, DDR 1977–1980 (HHF), 25 min, s/​w

Regie: Gabrie­le Den­ecke, Kame­ra: Tho­mas Plenert

Es war kurz vor Weih­nach­ten, 1977, als wir „Bei Ossi“ zu dre­hen began­nen. Von der Film­hoch­schu­le hat­ten wir ein paar Rol­len 16mm Mate­ri­al bekom­men, eine Kame­ra und das Tone­quip­ment. Wir luden alles in einen Hand­wa­gen und zogen los. Ich weiß nicht, was der Knei­pen­be­sit­zer Jos­su­peit dach­te, als wir so bei ihm auf­kreuz­ten. Jeden­falls ließ er sich nichts anmer­ken und wir konn­ten dre­hen. Eigent­lich hieß die Knei­pe „Bei Jos­su­peit“, aber alle nann­ten sie nur „Bei Ossi“. „Bei Ossi“ lag im Erd­ge­schoss eines alten Ber­li­ner Miets­hau­ses. Wenn man aus dem Ost­bahn­hof trat, fiel man ein­mal lang hin und schon war man drin in dem schwü­len, schma­len Knei­pen­raum, wo mor­gens um neun die Tür auf­flog und die Arbei­ter von der Nacht­schicht auf dem Wrie­ze­ner Bahn­hof rein stol­per­ten. Sie war­fen Geld in die Musik­box, drück­ten auf den Titel „Tan­ze Sam­ba mit mir, tan­ze Sam­ba die gan­ze Nacht“ und tran­ken ihr ers­tes Bier. Wir tra­fen Neu­bau-Die­ter, den alle so nann­ten, weil er im Neu­bau gleich hin­ter der Knei­pe wohn­te. Er erzähl­te von sei­ner Bri­ga­de, von den Jungs, auf die man sich ver­las­sen konn­te, vor allem, wenn‘s einem nicht gut ging, von sei­nem Traum – einem klei­nen Gar­ten mit Lau­be und von Hel­ga, sei­ner zwei­ten Frau. Die ers­te war früh gestor­ben, und Neu­bau-Die­ter stand mit drei klei­nen Kin­dern allein da. Jetzt waren sie groß, hei­ra­te­ten und beka­men selbst Kin­der. Ewi­ges The­ma „Bei Ossi“ war der Wes­ten, der nur 300 Meter wei­ter begann und doch uner­reich­bar blieb. Manch­mal kamen die Arbei­ter kurz vor der Nacht­schicht wie­der mit ihren Frau­en vor­bei, auf ein Bier und einen Tanz. Es war rau­chig und schmut­zig, aber es fühl­te sich gut an, für ein paar Wochen zu ihnen zu gehö­ren. Die hau­te nichts um.

Es waren die letz­ten Tage der alten Ber­li­ner Knei­pe. 1978 wur­de „Bei Ossi“ geschlos­sen, 1980 gesprengt. (Gabrie­le Denecke)

HEIM, DDR 1978/1990, 26 min, Regie: Ange­li­ka Andrees

HEIM ist ein unfer­ti­ger Film über Kin­der im Heim. Die Arbeit am Film­schnitt wur­de 1978 durch die Defa Direk­ti­on abge­bro­chen, der Film lan­de­te unter “Ver­schluss”, wur­de ver­bo­ten und nie fer­tig­ge­stellt. Der Grund: Die gro­ße Leis­tung des Bil­dungs­mi­nis­te­ri­ums, dem Kin­der­hei­me damals unter­stan­den, wur­de in dem Film nicht gewürdigt.

Das Kin­der­heim – ein gro­ßes Land­schloss in Meck­len­burg. Ein Schloss mit Park und vol­ler aus­ge­sto­ße­ner Kin­der. Die Som­mer­fe­ri­en ste­hen bevor. Die Schu­le ist vor­bei. In drei Tagen heißt es Abschied neh­men. Dann rei­sen die meis­ten Kin­der ab in die Feri­en nach Hau­se zu den Eltern. Sechs Tage beglei­tet der Film die Kin­der in ihrem Heim-All­tag und bei ihren Vor­be­rei­tun­gen. Kin­der zwi­schen 6 und 16 Jah­ren, die spie­len, toben und her­um­lun­gern. Kin­der, die uns von ihrem Schick­sal berich­ten. (Ange­li­ka Andrees)

DÖS­CHERS (ndt. DRE­SCHER), DDR 1977 (HFF), 35mm, 23 min

Regie: Han­nes Schö­ne­mann, Kame­ra: Tho­mas Plenert

Sommer1977. Eine Ern­te­kam­pa­gne, unse­re werk­tä­ti­gen Bau­ern kön­nen nicht nur arbei­ten, sie kön­nen auch fei­ern, hieß es damals.