Nicht ver­Re­cken

Deutsch­land 2021, 110 min, Deutsch | Fran­zö­sisch | Pol­nisch | Ukrai­nisch mit dt. UT

Regie: Mar­tin Gress­mann Publi­kums­preis Duis­bur­ger Film­wo­che 21

Immer wei­ter­lau­fen, um mit dem Leben davon­zu­kom­men… Anfang 1945 wer­den über­all dort, wo die Front in die Nähe der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger kommt, Gefan­ge­ne Rich­tung Wes­ten getrie­ben. Häft­lin­ge aus den Lagern Sach­sen­hau­sen und Ravens­brück müs­sen bis zu 250 Kilo­me­ter mar­schie­ren. Anfang Mai wer­den die Über­le­ben­den der Tor­tur in Raben Stein­feld bei Schwe­rin, in Lud­wigs­lust, in Plau am See und noch wei­ter nörd­lich von der Roten Armee und der US-Armee befreit. Über sie­ben Jahr­zehn­te spä­ter folgt Regis­seur Mar­tin Gress­mann den Haupt­rou­ten der Todes­mär­sche durch Bran­den­burg und Meck­len­burg-Vor­pom­mern, an denen heu­te 200 Gedenk­ta­feln ste­hen. In sei­nem Film NICHT VER­RE­CKEN lässt er die letz­ten, heu­te hoch­be­tag­ten Zeu­gen zu Wort kom­men. Eini­ge von ihnen spre­chen zum ers­ten Mal dar­über. Sie erin­nern sich an ein Grau­en, das nicht ver­schwin­det. Wie weit muss man zurück­schau­en, um zu ver­ste­hen, wie stark das Ver­gan­ge­ne mit dem Heu­ti­gen ver­knüpft ist?

“In der End­pha­se des Zwei­ten Welt­krie­ges wur­den tau­sen­de ent­kräf­te­te KZ-Häft­lin­ge dazu gezwun­gen, die front­na­hen Lager zu ver­las­sen. Ohne geeig­ne­te Klei­dung und Ver­sor­gung muss­ten sie bis zu 40 Kilo­me­ter am Tag mar­schie­ren. Wer zusam­men­brach, wur­de sofort erschos­sen. Ein his­to­risch gut erforsch­tes, aber in der kol­lek­ti­ven Erin­ne­rungs­kul­tur wenig prä­sen­tes Kapi­tel natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Ver­bre­chen. Das Zitat der Zeit­zeu­gin zeigt: Ver­ges­sen ist kei­ne Opti­on, weder für die Opfer und die Über­le­ben­den, noch für unse­re Gesell­schaft. Aber kön­nen wir auch fil­misch an den Holo­caust erinnern?

Die­se Fra­ge ist nicht neu und berührt das Dilem­ma, Bil­der für etwas zu fin­den, was sich unse­rer Vor­stel­lungs­kraft gänz­lich ent­zieht. Clau­de Lanz­man hat in die­sem Kon­text ein­mal gesagt, fän­de er authen­ti­sche Bild­do­ku­men­te aus den Gas­kam­mern, wür­de er sie sofort ver­nich­ten. Mit SHO­AH (1985) eta­blier­te er statt­des­sen die Metho­de, Orte auf­zu­su­chen, denen die dort ver­üb­ten Ver­bre­chen nicht mehr anzu­se­hen sind. Für NICHT VER­RE­CKEN ori­en­tiert sich Mar­tin Gress­mann an die­sem Kon­zept, das zuletzt auch HEI­MAT IST EIN RAUM AUS ZEIT von Tho­mas Hei­se oder ZUSTAND UND GELÄN­DE (2019) von Ute Adamc­zew­ski adaptierten.

In Nord­bran­den­burg und Meck­len­burg spürt er Feld­we­ge, Stra­ßen und Wald­lich­tun­gen auf, die auf der Rou­te der Todes­mär­sche lagen. In den idyl­li­schen Land­schaf­ten und spe­zi­ell im Belower Wald sind allen­falls Frag­men­te übrig geblie­ben. Eine Natur, die nicht von sich aus offen­bart, wie chao­tisch es 1945 hier zuging. (…) Die Kame­ra tas­tet die­se gleich­mü­ti­ge Natur ver­geb­lich auf der Suche nach Spu­ren wie auch nach Erklä­run­gen ab, wie Brit­ta Hart­mann es tref­fend in der Dis­kus­si­on beschreibt.

Zurück­ge­wor­fen auf die Bil­der, die im Kopf ent­ste­hen und sich sogleich dem eige­nen Ver­ständ­nis ver­wei­gern, ist das Publi­kum sicht­lich bewegt. Eini­ge, die aus der Regi­on kom­men, bedan­ken sich beim Regis­seur dafür, ihnen die Augen für ihre Umge­bung geöff­net zu haben. Die­se Stim­mung, eine Mischung aus Respekt, Anteil­nah­me und Erschüt­te­rung, ist vor allem auf die ein­drück­li­chen Schil­de­run­gen der Prot­ago­nis­ten des Films zurück­zu­füh­ren. (…) Auf Pol­nisch, Ukrai­nisch, Fran­zö­sisch und Deutsch schil­dern sie bewegt und 70 Jah­re spä­ter noch immer sicht­lich erschüt­tert und trau­ma­ti­siert ihre Erleb­nis­se. (…) NICHT VER­RE­CKEN erfin­det kei­ne neu­en Bild­kon­zep­te. Im Gedächt­nis blei­ben daher vor allem die Inter­views. Ihre fil­mi­sche Kon­ser­vie­rung in Anbe­tracht des Alters der Zeit­zeu­gen und ihres unauf­halt­sa­men Ver­schwin­dens ist von gro­ßer Bedeu­tung und kann Gress­mann wie auch dem Film gar nicht hoch genug ange­rech­net wer­den.“ (aus: Duis­bur­ger Pro­to­kol­le 21)