Ori­gi­nal Wol­fen – aus der Geschich­te einer Filmfabrik

D 1995, 16mm, 70 min, deut­sche Originalfassung

Regie: Niels Bol­brin­ker und Kers­tin Stutterheim

Arbei­ter ver­las­sen die Fabrik, Niels Bol­brin­ker und Kers­tin Stut­ter­heim zitie­ren den alten Film der Gebrü­der Lumiè­re und geben des­sen Titel eine neue Bedeu­tung: Nach dem Ende der DDR und den geschei­ter­ten Bemü­hun­gen der Treu­hand muß­ten über 10.000 Arbei­ter von ihrem Werk, der Film­fa­brik ORWO in Wol­fen, Abschied neh­men. Eine der tra­di­ti­ons­reichs­ten Pro­duk­ti­ons­stät­ten des deut­schen Ostens ist nach der am 20. Mai 1994 ein­ge­lei­te­ten Liqui­da­ti­on dabei, ihre Pfor­ten zu schließen. (…)

ORI­GI­NAL WOL­FEN ist das Requi­em auf eine Film­fa­brik. Eine sach­li­che, bis­wei­len melan­cho­li­sche Rück­schau auf ein knap­pes Jahr­hun­dert Indus­tria­li­sie­rung. Aus his­to­ri­schen Auf­nah­men und Inter­views mit Zeit­zeu­gen setzt sich die Geschich­te einer Fir­ma zusam­men, die für das deut­sche Kino unent­behr­lich war. 1909 bau­te man das Agfa-Werk auf grü­ner Wie­se: Das Land war bil­lig, das Was­ser der Mul­de nah, und es stan­den Arbeits­kräf­te mit einem ver­gleichs­wei­se nied­ri­gen Tarif zur Ver­fü­gung. Mit­te der 20er Jah­re wur­de Agfa zu einem Bestand­teil des IG-Far­ben-Kon­zerns. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg über­nahm die sowje­ti­sche Besat­zungs­macht den Betrieb, bis 1953. 1964 schließ­lich wur­de das Waren­zei­chen Agfa, das die Rus­sen ver­säumt hat­ten zu schüt­zen und das ein Lever­ku­se­ner Werk für sich bean­spruch­te, in ORWO umge­wan­delt: Ori­gi­nal Wol­fen. Über all die­se Etap­pen gibt im Film ein Archi­var Aus­kunft. Doch Bol­brin­ker und Stut­ter­heim inter­es­sie­ren sich nicht nur für den gro­ben Ablauf der His­to­rie, son­dern viel mehr für deren span­nen­de, immer auch mit Poli­tik kor­re­spo­nie­ren­de Details. (…) Auf ihrer ange­nehm lei­sen und unspek­ta­ku­lä­ren, mit nur wenig Kom­men­tar ver­se­he­nen Spu­ren­su­che kom­men Bol­brin­ker und Stut­ter­heim immer wie­der auf den All­tag bei Agfa und ORWO zu spre­chen. Die Film­fa­brik war vor­wie­gend ein Frau­en­be­trieb, und so sind es meist Frau­en, die sich erin­nern. Eine alte Dame sin­niert über ihren Ein­satz als “Dar­stel­le­rin” in Ver­suchs­fil­men: Dabei muß­ten sich Labo­ran­tin­nen häu­fig zu Ladys in Abend­gar­de­ro­be ver­wan­deln, will­kom­me­ne Abwechs­lung in einem Berufs­le­ben, das vor allem in der Dun­kel­kam­mer statt­fand. Jün­ge­re Beschäf­tig­te reflek­tie­ren ihre Lebens­be­din­gun­gen in der DDR: Bei ORWO wur­den Kin­der­gär­ten, Ambu­la­to­ri­en, Kauf­hal­len, eine Sau­na und vie­les mehr ein­ge­rich­tet; es sah ganz danach aus, als wür­de ver­wirk­licht, was die Werks­zei­tung der Agfa schon 1918 pos­tu­liert hat­te: “Eine Fabrik ist wie eine gro­ße Fami­lie”. Daß die­se Betreu­ung rund um die Uhr einen ganz prag­ma­ti­schen Grund hat­te, näm­lich die Arbei­te­rin­nen für stän­dig höhe­re Pro­duk­ti­ons­leis­tun­gen fit zu machen, beein­flußt den posi­ti­ven Tenor der Remi­nis­zen­zen kaum: “Es exis­tier­te ein Gefühl von Ver­traut­heit und Sicherheit.”

Bol­brin­ker und Stut­ter­heim wider­spre­chen dem nicht. Sie kom­men­tie­ren sol­che Sen­ten­zen weder mit nost­al­gi­scher “War-das-doch-schön”-Attitüde noch mit jenem modi­schen Zynis­mus, der sich in den Medi­en breit­macht, wenn es um ost­deut­sche Bio­gra­fien geht. Auch dem aus­schließ­lich skur­ri­len Blick auf den Osten ver­wei­gern sich die Autoren; sie hören und schau­en ein­fach zu; sie neh­men ernst, was ihnen anver­traut wird. In den Gegen­warts­se­quen­zen domi­niert Atmo­sphä­ri­sches: Lai­en­ma­ler, die sich auf dem weit­räu­mi­gen Gelän­de mit ihren Staf­fe­lei­en ein­ge­rich­tet haben und nun ein Rui­nen­feld zeich­nen. Ein Betriebs­ar­chi­var, der ein Sta­linge­mäl­de ent­deckt hat, das Mit­te der 50er Jah­re mit dem Gesicht zur Wand gedreht wur­de, die ein­fachs­te Art von Ver­gan­gen­heits­ent­sor­gung. Und ein Che­mi­ker, der das Geheim­nis der Emul­si­on mit dem der Coca-Cola-Rezep­tur ver­gleicht. Gera­de die Inter­views mit die­sem Mann krei­sen immer wie­der um Fra­gen des Arbeits­ethos. Die Ver­bun­den­heit mit der Fir­ma, den Stolz auf ihre Geschich­te, den Schmerz über die Sta­gna­ti­on, die im letz­ten Jahr­zehnt der DDR wie ein Schlei­cher über ORWO lag. Manch­mal erweist sich der Che­mi­ker sogar als Phi­lo­soph: “Wir woll­ten”, erzählt er, “daß in unse­ren Fil­men die Natur so aus­sieht, wie sie ist. Daß der Him­mel auch mal grau erscheint und das Gras nicht nur grün. (…) Unse­re Tra­di­ti­on ist jetzt been­det.” (Ralf Schenk, film​dienst​.de)