Bulgarien / Finnland / Norwegen 2023, 79 min, Bulgarisch | Russisch mit deutschen UT
Regie: Tonislav Hristov
“You have quite a way to go to reach my level” belehrt der alternde Beachboy einen seiner Nacheiferer. Ivan ist nicht mehr der Jüngste: er hat 40 Jahre Leben als Escort hinter sich, in denen er als sogenannte “Seagull“ ausländischen Damen am bulgarischen Sunny Beach die Urlaubszeit versüßte. Nun möchte er sich zur Ruhe setzen – doch wie, wenn das Geld knapp ist? Zudem wird Ivan Großvater, sein Sohn lebt jedoch in Kyiv und der Kontakt ist rar. Alles scheint aussichtslos und es ist Zeit, den eigenen Lebensweg zu überdenken. Routiniert begleitet Regisseur Hristov seinen Protagonisten auf dessen Sinnsuche und montiert dazu historische Strandaufnahmen aus Bulgariens nostalgischer Vergangenheit. Ein wunderbar sentimentales Filmporträt. (Maren Willkomm, DOKfest München 2023)
„Die Figur der „Möwe“ weckt in Bulgarien normalerweise romantische Assoziationen; Ihre Möwe wird jedoch realistischer dargestellt. Durch Ihren Film wird uns bewusst, dass diese Männer so etwas wie männliche Prostituierte sind.
-Ich würde es nicht Prostitution nennen, da sie nicht auf die volle Unterstützung von Frauen angewiesen waren; dies geschah saisonal. Seit der kommunistischen Zeit waren es meist Strandrettungsschwimmer, die jahrzehntelang sporadische Beziehungen mit ausländischen Touristinnen hatten. Nennen wir sie bezahlte männliche Begleiter. Einige von ihnen versuchten, im Ausland zu heiraten und eine Familie zu gründen, während andere Kinder bekamen, wie im Fall meiner Hauptfigur Ivan. Während des Regimes, als es für Bulgaren schwierig war, in den Westen zu reisen, war dies ihre Verbindung zur Außenwelt. Und ihr Verhalten und ihre Ziele waren damals ein offenes Geheimnis. Das sieht man in den Auszügen – gedreht mit versteckter Kamera – aus DIE MÖWEN (1977) von Hristo Kovachev. …
Wie kam es, dass Ivan Sie so nah an seine Welt heranließ und bereit war, so intime Geschichten zu erzählen?
- Er ist in meinem vorherigen Film DER GUTE POSTMANN zu sehen, der im Dorf Golyam Dervent nahe der türkischen Grenze gedreht wurde. Damals war er mit einer Ukrainerin liiert. Zusammen mit meinem Spielfilmdebüt DER GUTE FAHRER bilden sie eine Art Trilogie über Männer in der Midlife-Crisis, die nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Ich fand Ivan eine sehr interessante Person und wir kamen uns näher. Ich fragte mich, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente, da er abgesehen von gelegentlichen Jobs, kaum arbeitete. Dann fiel mir auf, dass er ständig von Frauen umgeben war und es stellte sich heraus, dass er im Sommer, als er als Rettungsschwimmer arbeitete, auch von einigen von ihnen finanziell unterstützt wurde. Für jüngere Rettungsschwimmer ist das nicht so üblich.
Wahrscheinlich, weil sie einer jüngeren Generation angehören und die Zeiten des Mangels in Bulgarien nicht miterlebt haben.
- Absolut. Die Älteren freuten sich über kleine Geschenke wie Nivea-Sonnencreme oder Toblerone, denn während des Kommunismus waren diese westlichen Waren nur in den speziellen Korekom-Shops erhältlich, wo normale Bulgaren sie nicht kaufen konnten, da dort ausschließlich ausländische Währung verwendet wurde. …
Im Großen und Ganzen könnte man Ivan als Metapher für die bulgarische Gesellschaft sehen, die dazu neigt, ihr Schicksal von äußeren Kräften bestimmen zu lassen.
- Ja, das ist eine der Ebenen. Ich komme aus Nordwestbulgarien, wo die Arbeitslosenquote sehr hoch ist und sich viele Menschen unverwirklicht und betrogen fühlen. Dieses Syndrom ist auch dort zu beobachten – der Lebensstandard ist niedrig, aber die Menschen sind auch mit den realistischen Möglichkeiten, die sie haben, unzufrieden und warten lieber auf imaginäre Lösungen ihrer Probleme oder geben externen Faktoren die Schuld. …
Es gibt einige kontroverse Szenen, in denen Ivan nicht im besten Licht dargestellt wird. Wie hat er auf den Film reagiert?
- Er hat einige Ausschnitte gesehen und sie gemocht; er hat mir auch vertraut. Ich halte ihn für einen positiven Charakter und habe versucht, ihn auch so darzustellen. Mein Film porträtiert einen Mann, der von Frauen schlecht behandelt wird – etwas, das man auf der Leinwand nicht oft sieht. Er wurde von all den Beziehungen in seinem Leben enttäuscht und behauptet deshalb in der Szene, in der wir ihn betrunken sehen, er hasse Frauen. Tatsächlich ist er jedoch tief verletzt.“ (Interview mit dem Regisseur, cineuropa.org)