František Vláčil Retrospektive zum 100. Geburtstag - Kino Krokodil 04.-12.09.2024
kuratiert von Ralph Eue
Nach dem Alten. Jenseits des Neuen
Auf das Konto des tschechischen Regisseurs František Vláčil geht eine ganze Reihe international anerkannter Meisterwerke, doch obwohl er Vorläufer, Wegbereiter und Impulsgeber der tschechischen neuen Welle war, sind seine Filme in Deutschland so gut wie unbekannt.
Der 1924 geborene František Vláčil kam durch Zufall zum Film. Im Katalog des Festivals von Bergamo, das ihm 1992 eine umfangreiche Retrospektive widmete, bezeichnete er sich als den einzigen Amateur des tschechischen Kinos und ergänzte, dass nichts in seiner Kindheit darauf hingedeutet hätte, einmal dort zu landen, wo er schließlich gelandet ist. Vláčil studierte weder an der staatlichen Filmhochschule FAMU, noch hatte er als Assistent anderer Regisseure gearbeitet. Ursprünglich wollte er Maler werden, verabschiedete sich aber schnell von dieser Idee, weil er bald selber feststellte, dass seine Begabung nicht ausreichte, um in die Fußstapfen von Picasso zu treten. Zeitgleich fing er aber an, wie ein Besessener zu zeichnen. An der Masaryk Universität von Brno belegte er schließlich Kurse in Kunstgeschichte, mit der vagen Idee, vielleicht einmal als Archivar im Kunstgewerbemuseum sein Auskommen zu finden und jobbte parallel im Zeichentrickstudio von Brno als Bühnenarbeiter. Dort fiel er mit seinem Improvisationstalent auf und schnell wurden ihm anspruchsvollere Aufgaben übertragen, wie Anfertigung von Silhouetten, Ausstanzen von Figuren und die Herstellung ganzer Storyboards für neue Produktionen. Es gibt keine Hinweise, dass Vláčil je Luis Buñuel begegnet ist, aber aus seinen Selbstzeugnissen kann man schließen, dass er Buñuels Einschätzung, wie man schicksalhafte Ereignisse im Leben von Menschen hierarchisieren müsse, zustimmen würde: „Der Zufall ist der große Meister aller Dinge. Danach erst kommt die Notwendigkeit.“
In der Biografie des jungen František, den man später den Riesen des tschechischen Films nennen sollte, folgten weitere Zufallslandungen. Bei Krátký Film zum Beispiel, dem nationalen Studio für kurze, wissenschaftliche- und Lehrfilme, wo er mit dem späteren Literaturwissenschaftler Oleg Sus zusammenarbeitete. Er drehte Gebrauchsfilme über pharmakologische Prozesse (Lék č. 2357 / Medikament # 2357) oder Elektrizität (Hospodaření Elektřinou/Strommanagement). Und mit seinem ‚Abschlussfilm‘ dort – einem Industriefilm über Thermodynamik (Tepelná revoluce/Die Wärmerevolution) – versuchte er einerseits an das Ausdrucksrepertoire der tschechischen Vorkriegsavantgarde anzuschmiegen und andererseits bereits einen Vorgeschmack auf das zu liefern, was seine ureigenen filmischen Verfahren – die er selbst als poetischen Formalismus bezeichnete – werden sollten. Als er 1951 in die Armee eingezogen und aufgrund seiner vorherigen Erfahrungen ins Armeefilmstudio überstellt wurde, erschien ihm das wie eine Vorausschau auf eine glorreiche Zukunft: Die 26 Auftragsfilme, die Vláčil dort bis 1958 realisierte, frappierten mit einer geradezu schwelgerischen Bildästhetik, die anscheinend nie mit administrativen oder ökonomischen Grenzen zu kämpfen hatten. Dabei hoben sie gar nicht ins Politisch-Pathetisch-Propagandistische ab, sondern brillierten mit artistischen Höhenflügen und schienen übermütig auszutesten, wo die Grenzen für erzählerischen Eigensinn und gestalterischen Ehrgeiz im gegebenen militärischen Rahmen liegen.
Mit seinem ersten eigenverantwortlichen, bereits in den Prager Barrandov Studios realisierten Film, dem 17-minütigen Skleněná oblaka/Glaswolken endete Vláčils Zeit als Armeefilmregisseur. 1958 wurde diese Arbeit bei den Filmfestspielen von Venedig mit einem Sonderpreis in der Kategorie Experimentalfilm ausgezeichnet und im Folgejahr legte er mit Holubice/Die weisse Taube seinen ersten abendfüllenden Spielfilm vor.
Beide Filme verbindet das Motiv des ‚verzauberten Kindes‘, sowie ekstatische Bildkraft und eine mit strenger Virtuosität prunkende Tonspur. Der Kameramann seiner frühen Filme, Jan Čuřík, erinnerte sich, dass Vláčil geradezu obsessiv Storyboards zeichnete und immer wieder Bilder innerhalb von Bildern komponierte. In Holubice fängt ein Junge, der allein in einem modernistischen Hochhaus an den Rollstuhl gefesselt ist, eine verirrte Brieftaube. Zusammen mit einem Künstler, der im gleichen Hochhaus sein Atelier hat, versucht er den Vogel vor den anhaltenden Attacken einer gierigen schwarzen Katze zu schützen. Es ist ein überwiegend wortloser Film, was der Regisseur damit erklärte, dass er seinem damals zehnjährigen Hauptdarsteller nicht zu viel Text zumuten wollte.
Den Regisseur, der sich mit Holubice als eine Art Mastermind der gerade heranbrechenden tschechischen Nová Vlna (Neue Welle) hätte etablieren können, schien jedoch die Zugehörigkeit zu dieser ‚Gruppe‘ gar nicht zu interessieren. Mit seinem nächsten Film, Ďáblova Past/Die Teufelsfalle (1961), zielte er auf ein ganz anderes Verständnis von filmischer Modernität als seine Alters- und Zeitgenossen. Und dabei bewegte er sich eher in die Richtung von Regisseuren wie Carl Theodor Dreyer (Vredens dag/Tag der Rache), Akira Kurosawa (Kumonosu-jō/Das Schloss im Spinnwebwald) und Ingmar Bergman (Jungfrukällan/Die Jungfrauenquelle) – ebenso vergangenheitsbewusst, wie hemmungslos avantgardistisch.
Die Teufelsfalle zeigt eine grausame Welt, wo der Terror der Inquisition ungezügelt über Mensch und Tier, Welt- und Zeitläufte gebietet und das heidnische Wissen eines einfachen Müllers ums Übersinnliche als Beweis für einen Pakt mit dem Teufel ausgelegt wird. Der Film kommt als wüste Naturgewalt daher, wie aus urzeitlichem Magma geformt, darin Verstand und Glaube, Profanes und Erhabenes, Individuum und Gesellschaft ungestüm aufeinandertreffen. Antonín Liehm, Publizist, Filmhistoriker und Gründer von Lettre International, charakterisierte das Anliegen Vláčils bei diesem und seinen beiden nachfolgenden Filmen – alle zwischen Mittelalter und kopernikanischer Wende angesiedelt – als einen Versuch, die Zuschauer ungefiltert und ungeschönt in eine fremde Zeit, eine andere Wirklichkeitserfahrung zu katapultieren.
Die Filme seiner historischen Trilogie – also Die Teufelsfalle, Marketa Lazarova (1965) und Údoli včel/Das Tal der Bienen (1967) – sind Werke, die einen wie wild ausschlagende Visionen bedrängen und jenseits herkömmlicher dramaturgischer Strukturen zu einer losen Abfolge erzählerischer Blöcke gefügt sind. Man hat den Eindruck, der Blick wandere durch ein Gemälde von Hieronymus Bosch, wo sich in loser Zeitordnung einzelne Handlungspunkte verdichten: allerdings ohne Zentralperspektive, ohne Psychologie und ohne Linearität.
Über die Dreharbeiten von Marketa Lazarova, dem mit Abstand aufwändigsten Werk Vláčils, wie auch des gesamten tschechoslowakischen Kinos, schrieb Marc Vetter im fantastischen Booklet der DVD des Films: Der Startschuss fiel 1965, erste Vorbereitungen für das Projekt gehen bis ins Jahr 1961 zurück. Vorgesehen waren gleich mehrere Schauplätze, die das Filmteam allerdings erst einmal mühevoll erschließen musste. Darunter befanden sich Lánská und Klokočín in Ostböhmen, wo das eindrucksvolle Schloss steht, das in Marketa Lazarova zu sehen ist. Insgesamt drehte František Vlácil mit seinem Team 548 Tage lang, bis alle Einstellungen im Kasten waren, davon sechs Monate am Stück und vor allem on location. Zu sehen sind zahlreiche Ruinen, Waldlandschaften und ein Moor, das sich für die Filmcrew fast zur lebensbedrohlichen Gefahr entwickelt hätte. Neben den mehr als 30 Hauptrollen, kamen Hunderte Komparsen und unzählige Tiere zum Einsatz.“ Wer sich bei diesem Resümee an den Wahnsinn erinnert fühlt, der ein gutes Jahrzehnt später auch Coppolas Apocalypse Now befeuern sollte, liegt gewiss nicht falsch.
In seiner historischen Trilogie perfektionierte Vláčil das, was man später mit einem Seitenblick auf Kafka „vláčilesk“ nennen sollte, doch die Herausforderungen, die damit verbunden waren, hinterließen auch massive Spuren an der Physis und der Psyche des Regisseurs. Ausgezogen in den Krieg, den diese Filme bedeuteten, war Vláčil mit dem Credo: „Wer etwas wirklich will, sucht nach einem Weg. Wer nicht will, sucht nach den Gründen, warum es nicht geht.“ Zurück kam er als erschöpfter Veteran. Der Schriftsteller Josef Škvorecký beschrieb den Regisseur einmal so: „Sein Kampf dauerte fünf Jahre und er hätte dabei auch sterben können. Mit Allen und Jedem legte er sich an, machte sich unbeliebt, weil die Projekte immer teurer wurden und sogar an anderer Stelle Geld abzogen, aber seiner Fieberhaftigkeit schien eine solche Macht inne zu wohnen, dass sie niemand zu bändigen vermochte. Von Film zu Film verlor er, der sowieso schon dürr war, an Gewicht, stärkte sich mit Alkohol, brach zusammen und gebärdete sich danach, als wäre er vom gleichen Fieber befallen, wie die Haudegen seiner Filme, bis er zu einem bärtigen Skelett abgemagert war.“
Die zweijährige Rekonvaleszenz nach der Herausbringung von Das Tal der Bienen nutzte Vláčil zur Vorbereitung von Adelheid (1969). Das Kammerspiel über die wechselnden Machtverhältnisse zwischen Tschechen und Deutschen im Sudetenland nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde mit dem Verdacht aufgenommen, dass die darin aufgeworfenen Fragen missverständlich beantwortet werden könnten. Entsprechend geriet Vláčil, wie viele andere, die für den Prager Frühling in den Künsten standen, ins Visier der auf „Normalisierung“ bedachten Kulturbehörden – er wurde nicht ‚ausgeschaltet‘ sondern ‚kaltgestellt‘, d.h. die Türen des staatlichen Filmstudios blieben für ihn verschlossen.
Die Eiszeit dauerte für Vláčil bis 1976. Nichtsdestotrotz konnte er ab 1972 ein halbes Dutzend Kurz- und Kinderfilme drehen, die für ihn selbst einen großen Stellenwert haben. In einem Interview erinnerte er sich: „František Uldrich (sein Kameramann, mit dem er 15 Filme drehte) besaß eigene Technik. Auch Zdeněk Lyška (Komponist beim überwiegenden Teil seiner langen Filme) hatte fast unbegrenzt Zeit. Wir bekamen das Filmmaterial und niemand überprüfte uns. Wir waren frei, fuhren morgens los und wussten oft nicht, was wir drehen würden. Nach Jahren hatte ich keine riesige Crew hinter mir und ich stand nicht unter dem Druck einer großen Verantwortung. Beim Drehen von Kurzfilmen ist man dem Geheimnis künstlerischen Schaffens sehr nah.“
Mit Dým bramborové natě/Kartoffelfeuer (1976) kehrte Vláčil nicht nur ins Barrandov Studio zurück, sondern drehte dort auch einen der unbekümmertsten und frischesten „Filme für Erwachsene“ der sogenannten grauen Jahre. Die freie Adaption von Bohumil Říhas Roman Doktor Meluzin ist ausdrücklich leise. Eine filmische Pastorale, die wie hingehaucht erscheint und dem ländlichen Milieu, in das der weltgewandte Doktor Meluzin (Rudolf Hrušínský) nach einer erfolgreichen Karriere in Paris zurückkehrt, großzügig Gelegenheit gibt, ‚mitzuspielen‘. Das erzählerische Zentrum des Films, die väterliche Beziehung des alten Arztes zu einer schwangeren jungen Frau, die von ihrer Mutter verstoßen wurde, erscheint dabei wunderbar beiläufig aus der narrativen Gradlinigkeit gerückt.
Nach Hadí Jed/Schlangengift (1981), einem verzweifelten (und gescheiterten) Versuch, dem eigenen Alkoholismus mittels eines Films beizukommen, zog sich Vláčil gänzlich aus der Welt des Kinos, wie auch dem gesellschaftlichen Leben zurück. Die Zeit bis zu seinem Tod (1999) verlebte er – unterbrochen nur von gelegentlichen Gastauftritten als Darsteller in Filmen von ehemaligen Kollegen (u.a. Jaromil Jireš), mitunter widerwilligen Beteiligungen an Porträtfilmen über sein Leben und seine Arbeit oder Wiederaufführungen seiner Werke – als Einsiedler in einer Hütte in Böhmen.
„Ich vertraue der Menschheit“, erklärte Vláčil in einem späten Porträt des tschechischen Fernsehens, „aber dem einzelnen Menschen vertraue ich nur halb. Will sagen, jeder einzelne ist zur Hälfte gut und zur Hälfte böse. Aber auch wenn das Mischverhältnis oft zur schlechten Seite hin ausschlägt, will ich nicht verzweifeln.“
P.S. Marketa Lazarova ist übrigens der einzige der 13 Spielfilme des Regisseurs, der in die deutschen Kinos kam bzw. auf einem deutschen DVD-Label erschien – das war 2016, also mit fünfzigjähriger Verspätung. Anlässlich des Kinostarts in jenem Jahr wurde er in der Zeitschrift Film Dienst gewürdigt als viel zu lange „übersehene Perle“, auch als „Missing Link der Filmgeschichte“. In einer Umfrage unter tschechischen Filmemachern und Kritikern wurde Marketa Lazarova 1998 zum besten tschechischen Film aller Zeiten gewählt.
Ralph Eue
Programm Krokodil
4. September (Mittwoch)
19.00 Uhr
POSÁDKA NA ŠTÍTĔ / BERGSTATION
ČSR 1956, 11 min, OmeU
Regie: František Vláčil
Filmisches Kammerspiel auf einer Bergstation, produziert fürs tschechische Armeefilmstudio. Raffinierte Bildkompositionen mit den ‚Protagonisten‘ Licht und Wetter. Unbekümmert schien Vláčil austesten zu wollen (und auch zu können), wo die Grenzen für erzählerischen Eigensinn und gestalterischen Ehrgeiz im gegebenen militärischen Rahmen liegen.
HOLUBICE / WEISSE TAUBE
ČSR 1960, 65 min, OmeU
Regie: František Vláčil
Kühnes und beeindruckendes Spielfilmdebüt in modernistischem Schwarzweiß. Ein Junge, der allein in einem Hochhaus an den Rollstuhl gefesselt ist, fängt versehentlich eine verirrte Brieftaube ab. Zusammen mit einem Künstler, der im gleichen Hochhaus sein Atelier hat, versucht er den Vogel vor den anhaltenden Attacken einer gierigen schwarzen Katze – sie heißt Satan – zu schützen. Es ist ein überwiegend wortloser Film, was der Regisseur damit erklärte, dass er seinem damals zehnjährigen Hauptdarsteller nicht zu viel Text zumuten wollte. Den Regisseur, der sich mit diesem Film als eine Art Mastermind der gerade aufkommenden tschechischen Nová Vlna (Neue Welle) hätte etablieren können, schien jedoch die Zugehörigkeit zu dieser ‚Gruppe‘ gar nicht zu interessieren.
21.00 Uhr Kurzfilmprogramm (Mittwoch)
MODRÝ DEN / BLAUER TAG
ČSR 1953, 26 min, OF
Regie: František Vláčil
František Vláčil trat 1951 ins Armeefilmstudio ein und lieferte bereits zwei Jahre darauf ein frühes Meisterstück: diesen opulenten Farbfilm mit Düsenjägern, die wie freie Silberpfeile den blauen Himmel durchkreuzen und als virtuose Tänzer ein sich selbst genügendes Luftballett vollführen – und so den engen militärischen Auftrag in großartige Sinnlosigkeit transzendieren.
SKLENĔNA OBLAKA / GLASWOLKEN
ČSR 1958, 17 min, OF
Regie: František Vláčil
Ein Scharnierfilm, entstanden in der Zeit, als Vláčil noch im Armeefilmstudio beschäftigt war und gedanklich schon an seinem ersten Spielfilm arbeitete. SKLENĔNA OBLAKA und HOLUBICE sind verbunden durch das Motiv des verzauberten Kindes sowie eine Filmsprache, die übermütig aus dem Fundus visueller Stilisierungsverfahren schöpft. Für diesen Film erhielt Vláčil 1958 bei den Filmfestspielen von Venedig einen Sonderpreis in der Kategorie Experimentallfilm.
PRONÁSLEDOVÁNY / VERFOLGUNG
ČSR 1958, 34 min, OF
Regie: František Vláčil
Abenteuer und Gefahr in namenlosem Grenzgebiet. In diesem zwischen Landser‑, Flucht- und Verfolgungsfilm changierenden ‚Ausflug František Vláčil ins Universum der klassischen Genres, unternimmt der Regisseur den ehrgeizigen Versuch, gängige Erzählmuster zu bedienen und sie im gleichen Atemzug mit einer übersprudelnden visuellen Fantasie zu ‚vergolden‘. Es gibt Sequenzen, die wirken als wären sie gleichermaßen Vorgriff auf die Bildwelten des Italowestern, wie ein Rückblick auf bildmächtige Idiome des Stummfilms. Außerdem brilliert PRONÁSLEDOVÁNY mit virtuoser Farb- und Zeitdramaturgie.
5. September (Donnerstag)
20.00 Uhr
MARKETA LAZAROVA
ČSR 1967, 160 min, OmdU
Regie: František Vláčil
MARKETA LAZAROVA wurde seit seiner Entstehung mal als Naturwunder, mal als heidnische Offenbarung bezeichnet. Ein Film, der wirkt, als würde man von wild ausschlagenden Visionen bedrängt, die jenseits herkömmlicher dramaturgischer Strukturen zu einer losen Abfolge erzählerischer Blöcke gefügt sind. Und man kommt sich vor, als würde der Blick wie durch ein Gemälde von Hieronymus Bosch wandern, wo sich in loser Zeitordnung einzelne Handlungspunkte verdichten: allerdings ohne Zentralperspektive, ohne Psychologie und ohne Linearität.
„MARKETA LAZAROVA entstand nach dem gleichnamigen Roman des tschechischen Avantgardeschriftstellers Vladislav Vancura, der während der Okkupation von den deutschen Besatzern hingerichtet worden war. Buch wie Film sind eine Raubrittergeschichte aus dem Mittelalter, die Legende einer leidenschaftlichen Liebe, die alle mit ihr in Berührung kommenden Menschen verwandelt. (…) Die Dreharbeiten dauerten rund sieben Monate, inszeniert wurde vorwiegend an authentischen Schauplätzen, in verfallenen Festungen und abgelegenen Wäldern, darunter in einem Moorland, das zu betreten nicht ungefährlich war. Die Besetzungsliste zählte rund 40 Hauptrollen und 200 Komparsen, meist in wilden, archaischen Kostümen. Hinzu kamen allegorisch eingesetzte Tierfiguren von Wölfen über Schlangen bis hin zu einem Schaf. Für die Musik nutzte Vlácil sakrale Gesänge. So entstand ein Film, der in seiner Symbiose von Naturalismus und Überhöhung, Wildheit und Poesie, Grausamkeit und Zärtlichkeit seinesgleichen sucht.“ (Ralf Schenk, filmdienst.de)
11. September (Mittwoch)
20.00 Uhr
ADELHEID
ČSR 1969, 95 min, OmdU
Regie: František Vláčil
Vor Filmbeginn liest Christoph Haacker (Arco Verlag) einen Auszug aus der Novelle ADELHEID (1967) von Vladimir Körner
Im wiedergewonnenen Sudetenland nach dem Zweiten Weltkrieg wird der ehemalige RAF-Flieger Viktor Chotovický (Petr Čepek) mit der Inventarisierung und Verwaltung eines großen Anwesens beauftragt, das früher einem Nazi-Funktionär gehörte. Die Tochter des ehemaligen Besitzers, Adelheid (Emma Černá), wird Viktor als Hausangestellte zugeteilt. Zwischen den beiden entwickelt sich eine seltsam schwebende Liebesbeziehung. ADELHEID ist ein unterkühltes Melodram vor dem Hintergrund der Beneš-Dekrete, also der Enteignung und Vertreibung der deutschen Bevölkerung in der gerade entstehenden Tschechoslowakei. Vláčils Film war der erste (und blieb auch danach einer der wenigen), der sich an diesem komplexen Kapitel der zentraleuropäischen Geschichte unvoreingenommen abarbeitete.
12. September (Donnerstag)
19.00 Uhr
ĎÁBLOVA PAST / DIE TEUFELSFALLE
CSR 1961, 83 min, DF, Vorführformat: 35mm
Regie: František Vláčil
Mit ĎÁBLOVA PAST zielte František Vláčil unverhohlen auf die Nachbarschaft mit Regisseuren wie Carl Theodor Dreyer (VREDENS DAG/TAG DER RACHE), Akira Kurosawa (KUMONOSU-JŌ/DAS SCHLOSS IM SPINNWEBWALD), Ingmar Bergman (JUNGFRUKÄLLAN/DIE JUNGFRAUENQUELLE) oder Orson Welles (OTHELLO) – und sah sich, wie diese, gleichermaßen als Traditionalist wie Avantgardist.
Eine kleine Siedlung in Böhmen wird eines Tages von einem Priester (Miroslav Machácek) besucht, der dort in geheimer Mission unterwegs ist. Er ist ein Mitglied der Inquisition, das die Aktivitäten eines örtlichen Müllers (Vítezslav Vejražka) untersuchen soll. Der Müller und sein Sohn (Vit Olmer) sind Nachkommen einer alten Familie, deren Mühle vor einem Jahrhundert von schwedischen Soldaten abgefackelt, seither aber ‚absolut originalgetreu‘ wieder aufgebaut wurde – was für sich schon verdächtig ist. Argwohn erregt darüber hinaus des Müllers Gabe, in verdorrtem Land frisches Wasser zu erahnen und obendrein noch vorhersagen zu können, dass eine auf unsicherem Grund gebaute Scheune einstürzen wird – was dem Inquisitor als untrüglicher Beleg erscheint, dass der einfache Mann mit dem Teufel im Bunde ist.
Vláčils Film kommt als wüste Naturgewalt daher, wie aus urzeitlichem Magma geformt, darin Verstand und Glaube, Profanes und Erhabenes, Individuum und Gesellschaft ungestüm aufeinandertreffen.