Der Poet als Doku­men­ta­rist – Werk­schau Haru­tyun Khachatryan

16.-19. Oktober 2025

Harutyun Khachatryan: Dokumentieren des Windes

Wenn je ein Künst­ler durch einen frü­hen trau­ma­ti­schen Ein­druck geprägt wur­de, dann ist es der arme­ni­sche Fil­me­ma­cher Haru­tyun Khacha­t­ryan. 1955 in Ach­al­ka­la­ki gebo­ren, einer von Arme­ni­ern bewohn­ten Stadt in Sowjet­ge­or­gi­en, nur 29 km von der Gren­ze zur Arme­ni­schen SSR ent­fernt, wuchs er auf zwi­schen Wel­ten – mit der Sehn­sucht nach einer Hei­mat, die uner­reich­bar bleibt und doch bis zum letz­ten Atem­zug zurück­ruft. Die­ses Gefühl durch­zieht unwei­ger­lich fast alle sei­ne Fil­me und beson­ders die sechs Wer­ke, die in „Der Poet als Doku­men­ta­rist“, der Retro­spek­ti­ve des Kinos Kro­ko­dil, zu sei­nem 70. Geburts­tag, gezeigt werden.

„Bevor ich zur Schu­le ging“, erin­nert sich Khacha­t­ryan, „hat­te ich nicht bemerkt, dass ich nicht in Arme­ni­en leb­te.“ Wegen der Nähe zur tür­ki­schen Gren­ze, die von jenen genutzt wur­de, die das Leben in der Sowjet­uni­on hin­ter sich las­sen woll­ten, war die Regi­on stark von Grenz­schutz über­wacht. Vie­le ver­such­ten, die Gren­ze zu Fuß zu über­que­ren, doch die schnee­be­deck­ten Ber­ge um Ach­al­ka­la­ki ver­hiel­ten sich kalt und gleich­gül­tig gegen­über ihrem Schick­sal. Dort tra­fen vie­le ihren Schöp­fer. Die­ses Schick­sal teil­ten damals wie heu­te arme­ni­sche Stu­den­ten, die – so Khacha­t­ryan – ohne eine Son­der­ge­neh­mi­gung nicht in Jere­wan, der Haupt­stadt Arme­ni­ens, stu­die­ren konn­ten. In der Vor­stel­lung eines Teen­agers ver­fes­tig­ten die­se Geschich­ten und Gerüch­te, die über die schein­bar idyl­li­schen Wie­sen und Gras­län­der zu ihm dran­gen, end­gül­tig das Gefühl – ja, die Über­zeu­gung –, dass Lini­en auf einer Kar­te einen Men­schen zer­schnei­den kön­nen. Men­tal und zuwei­len buchstäblich.

Ist es da ein Wun­der, dass Khacha­t­ryan in den spä­ten 1980er-Jah­ren, nach­dem er eini­ge klas­si­sche kur­ze Doku­men­tar­fil­me gedreht hat­te, auf der Lein­wand als einer der fil­mi­schen Ver­kün­der des gesell­schaft­li­chen und ideo­lo­gi­schen Zer­falls erschien, der dem Zusam­men­bruch der einst mäch­ti­gen Uni­on der Sozia­lis­ti­schen Sowjet­re­pu­bli­ken vor­aus­ging? Etwas war faul im Reich der Sowjets, und dies wur­de in Khacha­t­ryans Kurz­fil­men Kond (1987) und White Town (1988) immer deut­li­cher, die im In- und Aus­land Anklang fan­den und ihm beim Inter­na­tio­na­len Doku­men­tar­film­fes­ti­val Nyon eine loben­de Erwäh­nung bzw. einen Ses­ter­ce d’Argent einbrachten.

Doch 1989 nahm die Ero­si­on der Mythen, die den Viel­völ­ker­staat zusam­men­hiel­ten, in Khacha­t­ryans ers­tem Spiel­film eine tra­gisch natio­na­le Form an – dem tref­fend beti­tel­ten Wind of Obli­vi­on. Man könn­te behaup­ten, dass der Zusam­men­bruch der UdSSR mit Beginn der Kara­bach-Bewe­gung 1988 einen unum­kehr­ba­ren Punkt erreich­te, als Hun­dert­tau­sen­de in Arme­ni­en und Berg-Kara­bach auf die Stra­ßen gin­gen und Gerech­tig­keit sowie Ver­ei­ni­gung for­der­ten. Daher über­rascht es nicht, dass genau hier Wind of Obli­vi­on ansetzt. Ein semi­fik­tio­na­les Road­mo­vie, mit­ver­fasst von Khacha­t­ryans stän­di­gem Mit­ar­bei­ter Mikayel Stam­bolt­s­y­an, beglei­tet er den arme­ni­schen Lie­der­ma­cher Ruben Hakhver­dy­an auf sei­ner Rei­se durch wei­te Stre­cken der UdSSR, wäh­rend die­ser Arme­ni­er auf­sucht und befragt, die die Hei­mat ver­las­sen hat­ten. „Viel­leicht hat uns die Natur so erschaf­fen, dass wir vor uns selbst davon­lau­fen müs­sen“, sagt Thea­ter­re­gis­seur Hayk, des­sen Flucht ihn von den son­ni­gen Tälern Arme­ni­ens bis in die eisi­ge sibi­ri­sche Tun­dra geführt hat. Unter den Schreck ein­flö­ßen­den kako­pho­ni­schen Klän­gen der Sym­pho­nien des Kom­po­nis­ten Avet Ter­te­ri­ans (ein treu­er Beglei­ter auf Khacha­t­ryans Rei­sen) wird das Gan­ze zu einem fast fata­lis­ti­schen Bericht über ein Volk, das ver­sucht, der Last sei­ner Geschich­te aus­zu­wei­chen, nur um immer wie­der von ihrem Gewicht erdrückt zu werden.

Gleich­wohl, wenn ein Emi­grant zurück­keh­ren wür­de, was wür­de er sehen? The Return of the Poet(2006), Khacha­t­ryans zwei­te fil­mi­sche Heim­kehr nach White Town, ist eine düs­te­re Refle­xi­on die­ser Mög­lich­keit. Der Dich­ter ist in die­sem Fall der arme­ni­sche Ashugh (Bar­de) Jiva­ni des spä­ten 19. Jahr­hun­derts, der in einem klei­nen Dorf bei Ach­al­ka­la­ki gebo­ren und auf­ge­wach­sen war. Als wol­le der Film die pas­to­ra­le Schön­heit ver­mit­teln, die den Dich­ter präg­te und in sei­nen Lie­dern Aus­druck fand, ver­wei­len die ers­ten Minu­ten bei idyl­li­schen Land­schaf­ten um Ach­al­ka­la­ki, Nah­auf­nah­men von anein­an­der geku­schel­ten Scha­fen und Kup­peln arme­ni­scher Kir­chen, deren fried­lich läu­ten­de Glo­cken die Luft erfül­len. Der Rest des Films gestal­tet sich jedoch, so scheint es, als beängs­ti­gen­der Kon­tra­punkt zu die­sem Idyll, als eine Sta­tue Jiva­nis aus Stein gehau­en und quer durch Arme­ni­en trans­por­tiert wird, um in sei­ner Hei­mat auf­ge­stellt zu wer­den. Was die stren­gen Augen der Sta­tue in der Gegen­wart sehen, erscheint als erns­te Umkeh­rung des Beginns, da selbst die gebor­ge­nen Scha­fe offen­bar zur Schlach­tung für ein Fest­mahl bestimmt sind.

Die Rei­se der Sta­tue dient nur als Vor­wand, um eine Rei­he fil­mi­scher Impres­sio­nen mit­ein­an­der zu ver­we­ben. The Return of the Poet ist mehr ein Fluss locker ver­bun­de­ner Bil­der und Klän­ge, weni­ger über sein Sujet, als viel­mehr es umkrei­send; wie meis­tens in Khacha­t­ryans Werk. Die­se audio­vi­su­el­len Strö­me, die bis­wei­len wie doku­men­ta­ri­sche Fie­ber­träu­me wir­ken, trans­por­tie­ren mehr Emo­ti­on als die Hand­lun­gen selbst, die bewusst dünn und vage gehal­ten sind. Dies zeigt sich auch in Bor­der(2009), wohl Khacha­t­ryans meist­dis­ku­tier­tem Film, der von Abbas Kiaros­t­ami gelobt wur­de und sich in einem Satz zusam­men­fas­sen lässt: Eine Kuh über­schrei­tet eine Gren­ze, gelangt in ein ande­res Land, wird auf einen Hof gebracht, ent­kommt aber immer wie­der. Fak­tisch wird nichts wei­ter erklärt; weder, in wel­chen Län­dern wir uns befin­den, noch, wer die­se Bau­ern sind, noch, was die Kuh antreibt, stän­dig davon­zu­lau­fen. Doch die Sehn­sucht nach einem Ort, den man Hei­mat nennt, ist an sich weit­ge­hend uner­klär­lich. In die­sem Sinn bleibt der Film der unmög­li­chen Sehn­sucht und dem Bedürf­nis nach Zuge­hö­rig­keit treu, die Khacha­t­ryans Kino durch­drin­gen. Am deut­lichs­ten wird dies in einer Ein­stel­lung der ent­flo­he­nen Kuh, die auf einem gras­be­wach­se­nen Pfad direkt auf die Lein­wand zu rennt. Ver­stärkt durch anschwel­len­de Orches­ter­mu­sik, klingt die Sze­ne sanft mit den kaum hör­ba­ren Vibra­tio­nen der Kuh­glo­cke aus, bevor ein har­ter Schnitt das Bild auf den Sta­chel­draht eines Grenz­zauns richtet.

Bor­der ist eines von Khacha­t­ryans am leich­tes­ten als Fik­ti­on ein­zu­ord­nen­den Wer­ken, doch sein Gesam­tœu­vre spie­gelt in gewis­ser Wei­se die Ent­wick­lung des soge­nann­ten Doku­men­tar­films wider – vom wört­li­chen Doku­ment, dem reins­ten Abbild phy­si­scher Rea­li­tät, hin zur Nut­zung des Rea­len als Roh­stoff, ähn­lich wie der Spiel­film es mit insze­nier­ter Wirk­lich­keit tut.

Doch in den 2010er-Jah­ren kehr­te Khacha­t­ryan, sei­ner Welt­sicht treu blei­bend, zu sei­nen doku­men­ta­ri­schen Wur­zeln zurück, um die rea­len Figu­ren aus sei­nem Debüt­film von 1989 wie­der auf­zu­su­chen und zu sehen, wohin sie der Wind des Ver­ges­sens in vier Jahr­zehn­ten getra­gen hat­te. Das Ergeb­nis war eine Tri­lo­gie: End­less Escape, Eter­nal Return (2014), Dead­lock(2016) und Three Gra­ves of the Artist(2022). Der ers­te Teil erzählt die Geschich­te von Hayk Khacha­t­ryan, jenem Thea­ter­re­gis­seur aus Sibi­ri­en, der Wind of Obli­vi­on einen sei­ner unver­gess­lichs­ten Dia­lo­ge schenk­te. Der zwei­te folgt Levon Ave­ti­s­y­an, der in den 1990er-Jah­ren wäh­rend der schwe­ren wirt­schaft­li­chen Kri­sen im post­so­wje­ti­schen Arme­ni­en eine Green Card gewann und in die USA aus­wan­der­te – nur um dort den lang­sa­men Ver­fall sei­ner Fami­lie in einem frem­den Land mit­zu­er­le­ben. Der drit­te schließ­lich ist eine Ode an den exzen­tri­schen Maler Vahan Anan­y­an, des­sen schie­re künst­le­ri­sche Dyna­mik unaus­lösch­li­che Spu­ren in Jere­wan, Kiew und Tal­linn hin­ter­ließ. Zwei die­ser Män­ner sind heu­te tot, einer lebt wei­ter geplagt von dem, was hät­te sein kön­nen oder sein sol­len. Obwohl in völ­lig ver­schie­de­nen Tei­len der Welt gedreht, lesen sich alle drei Fil­me wie ein Nach­ruf auf die Ver­stor­be­nen und ein Obitu­ar auf die viel­leicht nai­ve Hoff­nung, eine bes­se­re Hei­mat zu fin­den als die, in die man hin­ein­ge­bo­ren wurde.

In einer Zeit, in der einer­seits täg­lich neue Zäu­ne errich­tet wer­den und die Zahl der Ver­trie­be­nen so hoch ist wie seit dem Zwei­ten Welt­krieg nicht, und ande­rer­seits natür­lich gege­be­ne Grenz­li­ni­en künst­lich weg­ge­wischt wer­den, schei­nen Khacha­t­ryans Fil­me von düs­te­rer Rele­vanz zu sein; man­che viel­leicht noch mehr als zum Zeit­punkt ihrer Ver­öf­fent­li­chung. Zusam­men­ge­nom­men sind sie eine fil­mi­sche Suche nach Zuge­hö­rig­keit durch Jahr­zehn­te hin­durch, über Kon­ti­nen­te hin­weg und auf ver­schie­de­nen Sei­ten von Grenz­li­ni­en in Raum und Zeit – ein gro­ßes Aben­teu­er, ver­mit­telt durch klei­ne, inti­me Por­träts, das Läu­ten einer Kuh­glo­cke und das stum­me Star­ren einer Sta­tue. Der ruhe­lo­se Mann hin­ter der Kame­ra ver­sucht ver­zwei­felt, die Quel­le jener Ent­frem­dung zu erfas­sen, die die Welt antreibt. Ist es der hek­ti­sche Wind um uns her­um oder unser eige­ner Atem, der uns von innen her ergreift? Fra­gen Sie sich selbst: Wohin wird uns der Wind des Ver­ges­sens als Nächs­tes tragen?

Artur Var­di­ky­an

(Aus dem Eng­li­schen von Fred Kelemen)