Der tsche­chi­sche Regis­seur Fran­tišek Vláčil

František Vláčil Retrospektive zum 100. Geburtstag - Kino Krokodil 04.-12.09.2024

kuratiert von Ralph Eue

Nach dem Alten. Jen­seits des Neuen

Auf das Kon­to des tsche­chi­schen Regis­seurs Fran­tišek Vlá­čil geht eine gan­ze Rei­he inter­na­tio­nal aner­kann­ter Meis­ter­wer­ke, doch obwohl er Vor­läu­fer, Weg­be­rei­ter und Impuls­ge­ber der tsche­chi­schen neu­en Wel­le war, sind sei­ne Fil­me in Deutsch­land so gut wie unbekannt.

Der 1924 gebo­re­ne Fran­tišek Vlá­čil kam durch Zufall zum Film. Im Kata­log des Fes­ti­vals von Ber­ga­mo, das ihm 1992 eine umfang­rei­che Retro­spek­ti­ve wid­me­te, bezeich­ne­te er sich als den ein­zi­gen Ama­teur des tsche­chi­schen Kinos und ergänz­te, dass nichts in sei­ner Kind­heit dar­auf hin­ge­deu­tet hät­te, ein­mal dort zu lan­den, wo er schließ­lich gelan­det ist. Vlá­čil stu­dier­te weder an der staat­li­chen Film­hoch­schu­le FAMU, noch hat­te er als Assis­tent ande­rer Regis­seu­re gear­bei­tet. Ursprüng­lich woll­te er Maler wer­den, ver­ab­schie­de­te sich aber schnell von die­ser Idee, weil er bald sel­ber fest­stell­te, dass sei­ne Bega­bung nicht aus­reich­te, um in die Fuß­stap­fen von Picas­so zu tre­ten. Zeit­gleich fing er aber an, wie ein Beses­se­ner zu zeich­nen. An der Masa­ryk Uni­ver­si­tät von Brno beleg­te er schließ­lich Kur­se in Kunst­ge­schich­te, mit der vagen Idee, viel­leicht ein­mal als Archi­var im Kunst­ge­wer­be­mu­se­um sein Aus­kom­men zu fin­den und jobb­te par­al­lel im Zei­chen­trick­stu­dio von Brno als Büh­nen­ar­bei­ter. Dort fiel er mit sei­nem Impro­vi­sa­ti­ons­ta­lent auf und schnell wur­den ihm anspruchs­vol­le­re Auf­ga­ben über­tra­gen, wie Anfer­ti­gung von Sil­hou­et­ten, Aus­stan­zen von Figu­ren und die Her­stel­lung gan­zer Sto­ry­boards für neue Pro­duk­tio­nen. Es gibt kei­ne Hin­wei­se, dass Vlá­čil je Luis Buñu­el begeg­net ist, aber aus sei­nen Selbst­zeug­nis­sen kann man schlie­ßen, dass er Buñu­els Ein­schät­zung, wie man schick­sal­haf­te Ereig­nis­se im Leben von Men­schen hier­ar­chi­sie­ren müs­se, zustim­men wür­de: „Der Zufall ist der gro­ße Meis­ter aller Din­ge. Danach erst kommt die Notwendigkeit.“

In der Bio­gra­fie des jun­gen Fran­tišek, den man spä­ter den Rie­sen des tsche­chi­schen Films nen­nen soll­te, folg­ten wei­te­re Zufalls­lan­dun­gen. Bei Krát­ký Film zum Bei­spiel, dem natio­na­len Stu­dio für kur­ze, wis­sen­schaft­li­che- und Lehr­fil­me, wo er mit dem spä­te­ren Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Oleg Sus zusam­men­ar­bei­te­te. Er dreh­te Gebrauchs­fil­me über phar­ma­ko­lo­gi­sche Pro­zes­se (Lék č. 2357 / Medi­ka­ment # 2357) oder Elek­tri­zi­tät (Hos­po­daření Elektřinou/​Strommanagement). Und mit sei­nem ‚Abschluss­film‘ dort – einem Indus­trie­film über Ther­mo­dy­na­mik (Tepelná revoluce/​Die Wär­me­re­vo­lu­ti­on) – ver­such­te er einer­seits an das Aus­drucks­re­per­toire der tsche­chi­schen Vor­kriegs­avant­gar­de anzu­schmie­gen und ande­rer­seits bereits einen Vor­ge­schmack auf das zu lie­fern, was sei­ne urei­ge­nen fil­mi­schen Ver­fah­ren – die er selbst als poe­ti­schen For­ma­lis­mus bezeich­ne­te – wer­den soll­ten. Als er 1951 in die Armee ein­ge­zo­gen und auf­grund sei­ner vor­he­ri­gen Erfah­run­gen ins Armee­film­stu­dio über­stellt wur­de, erschien ihm das wie eine Vor­aus­schau auf eine glor­rei­che Zukunft: Die 26 Auf­trags­fil­me, die Vlá­čil dort bis 1958 rea­li­sier­te, frap­pier­ten mit einer gera­de­zu schwel­ge­ri­schen Bild­äs­the­tik, die anschei­nend nie mit admi­nis­tra­ti­ven oder öko­no­mi­schen Gren­zen zu kämp­fen hat­ten. Dabei hoben sie gar nicht ins Poli­tisch-Pathe­tisch-Pro­pa­gan­dis­ti­sche ab, son­dern bril­lier­ten mit artis­ti­schen Höhen­flü­gen und schie­nen über­mü­tig aus­zu­tes­ten, wo die Gren­zen für erzäh­le­ri­schen Eigen­sinn und gestal­te­ri­schen Ehr­geiz im gege­be­nen mili­tä­ri­schen Rah­men liegen.

Mit sei­nem ers­ten eigen­ver­ant­wort­li­chen, bereits in den Pra­ger Bar­ran­dov Stu­di­os rea­li­sier­ten Film, dem 17-minü­ti­gen Skleněná oblaka/​Glaswolken ende­te Vlá­čils Zeit als Armee­film­re­gis­seur. 1958 wur­de die­se Arbeit bei den Film­fest­spie­len von Vene­dig mit einem Son­der­preis in der Kate­go­rie Expe­ri­men­tal­film aus­ge­zeich­net und im Fol­ge­jahr leg­te er mit Holubice/​Die weis­se Tau­be sei­nen ers­ten abend­fül­len­den Spiel­film vor.

Bei­de Fil­me ver­bin­det das Motiv des ‚ver­zau­ber­ten Kin­des‘, sowie eksta­ti­sche Bild­kraft und eine mit stren­ger Vir­tuo­si­tät prun­ken­de Ton­spur. Der Kame­ra­mann sei­ner frü­hen Fil­me, Jan Čuřík, erin­ner­te sich, dass Vlá­čil gera­de­zu obses­siv Sto­ry­boards zeich­ne­te und immer wie­der Bil­der inner­halb von Bil­dern kom­po­nier­te. In Holub­ice fängt ein Jun­ge, der allein in einem moder­nis­ti­schen Hoch­haus an den Roll­stuhl gefes­selt ist, eine ver­irr­te Brief­tau­be. Zusam­men mit einem Künst­ler, der im glei­chen Hoch­haus sein Ate­lier hat, ver­sucht er den Vogel vor den anhal­ten­den Atta­cken einer gie­ri­gen schwar­zen Kat­ze zu schüt­zen. Es ist ein über­wie­gend wort­lo­ser Film, was der Regis­seur damit erklär­te, dass er sei­nem damals zehn­jäh­ri­gen Haupt­dar­stel­ler nicht zu viel Text zumu­ten wollte.

Den Regis­seur, der sich mit Holub­ice als eine Art Mas­ter­mind der gera­de her­an­bre­chen­den tsche­chi­schen Nová Vlna (Neue Wel­le) hät­te eta­blie­ren kön­nen, schien jedoch die Zuge­hö­rig­keit zu die­ser ‚Grup­pe‘ gar nicht zu inter­es­sie­ren. Mit sei­nem nächs­ten Film, Ďáblo­va Past/​Die Teu­fels­fal­le (1961), ziel­te er auf ein ganz ande­res Ver­ständ­nis von fil­mi­scher Moder­ni­tät als sei­ne Alters- und Zeit­ge­nos­sen. Und dabei beweg­te er sich eher in die Rich­tung von Regis­seu­ren wie Carl Theo­dor Drey­er (Vre­dens dag/​Tag der Rache), Aki­ra Kuro­sa­wa (Kumo­no­su-jō/­Das Schloss im Spinn­web­wald) und Ing­mar Berg­man (Jungfrukällan/​Die Jung­frau­en­quel­le) – eben­so ver­gan­gen­heits­be­wusst, wie hem­mungs­los avantgardistisch.

Die Teu­fels­fal­le zeigt eine grau­sa­me Welt, wo der Ter­ror der Inqui­si­ti­on unge­zü­gelt über Mensch und Tier, Welt- und Zeit­läuf­te gebie­tet und das heid­ni­sche Wis­sen eines ein­fa­chen Mül­lers ums Über­sinn­li­che als Beweis für einen Pakt mit dem Teu­fel aus­ge­legt wird. Der Film kommt als wüs­te Natur­ge­walt daher, wie aus urzeit­li­chem Mag­ma geformt, dar­in Ver­stand und Glau­be, Pro­fa­nes und Erha­be­nes, Indi­vi­du­um und Gesell­schaft unge­stüm auf­ein­an­der­tref­fen. Antonín Liehm, Publi­zist, Film­his­to­ri­ker und Grün­der von Lett­re Inter­na­tio­nal, cha­rak­te­ri­sier­te das Anlie­gen Vlá­čils bei die­sem und sei­nen bei­den nach­fol­gen­den Fil­men – alle zwi­schen Mit­tel­al­ter und koper­ni­ka­ni­scher Wen­de ange­sie­delt – als einen Ver­such, die Zuschau­er unge­fil­tert und unge­schönt in eine frem­de Zeit, eine ande­re Wirk­lich­keits­er­fah­rung zu katapultieren.

Die Fil­me sei­ner his­to­ri­schen Tri­lo­gie – also Die Teu­fels­fal­le, Mar­ke­ta Laza­ro­va (1965) und Údo­li včel/​Das Tal der Bie­nen (1967) – sind Wer­ke, die einen wie wild aus­schla­gen­de Visio­nen bedrän­gen und jen­seits her­kömm­li­cher dra­ma­tur­gi­scher Struk­tu­ren zu einer losen Abfol­ge erzäh­le­ri­scher Blö­cke gefügt sind. Man hat den Ein­druck, der Blick wan­de­re durch ein Gemäl­de von Hie­ro­ny­mus Bosch, wo sich in loser Zeit­ord­nung ein­zel­ne Hand­lungs­punk­te ver­dich­ten: aller­dings ohne Zen­tral­per­spek­ti­ve, ohne Psy­cho­lo­gie und ohne Linearität.

Über die Dreh­ar­bei­ten von Mar­ke­ta Laza­ro­va, dem mit Abstand auf­wän­digs­ten Werk Vlá­čils, wie auch des gesam­ten tsche­cho­slo­wa­ki­schen Kinos, schrieb Marc Vet­ter im fan­tas­ti­schen Book­let der DVD des Films: Der Start­schuss fiel 1965, ers­te Vor­be­rei­tun­gen für das Pro­jekt gehen bis ins Jahr 1961 zurück. Vor­ge­se­hen waren gleich meh­re­re Schau­plät­ze, die das Film­team aller­dings erst ein­mal mühe­voll erschlie­ßen muss­te. Dar­un­ter befan­den sich Láns­ká und Klo­kočín in Ost­böh­men, wo das ein­drucks­vol­le Schloss steht, das in Mar­ke­ta Laza­ro­va zu sehen ist. Ins­ge­samt dreh­te Fran­tišek Vlá­cil mit sei­nem Team 548 Tage lang, bis alle Ein­stel­lun­gen im Kas­ten waren, davon sechs Mona­te am Stück und vor allem on loca­ti­on. Zu sehen sind zahl­rei­che Rui­nen, Wald­land­schaf­ten und ein Moor, das sich für die Film­crew fast zur lebens­be­droh­li­chen Gefahr ent­wi­ckelt hät­te. Neben den mehr als 30 Haupt­rol­len, kamen Hun­der­te Kom­par­sen und unzäh­li­ge Tie­re zum Ein­satz.“ Wer sich bei die­sem Resü­mee an den Wahn­sinn erin­nert fühlt, der ein gutes Jahr­zehnt spä­ter auch Cop­po­las Apo­ca­lyp­se Now befeu­ern soll­te, liegt gewiss nicht falsch.

In sei­ner his­to­ri­schen Tri­lo­gie per­fek­tio­nier­te Vlá­čil das, was man spä­ter mit einem Sei­ten­blick auf Kaf­ka „vlá­či­lesk“ nen­nen soll­te, doch die Her­aus­for­de­run­gen, die damit ver­bun­den waren, hin­ter­lie­ßen auch mas­si­ve Spu­ren an der Phy­sis und der Psy­che des Regis­seurs. Aus­ge­zo­gen in den Krieg, den die­se Fil­me bedeu­te­ten, war Vlá­čil mit dem Cre­do: „Wer etwas wirk­lich will, sucht nach einem Weg. Wer nicht will, sucht nach den Grün­den, war­um es nicht geht.“ Zurück kam er als erschöpf­ter Vete­ran. Der Schrift­stel­ler Josef Škvor­ecký beschrieb den Regis­seur ein­mal so: „Sein Kampf dau­er­te fünf Jah­re und er hät­te dabei auch ster­ben kön­nen. Mit Allen und Jedem leg­te er sich an, mach­te sich unbe­liebt, weil die Pro­jek­te immer teu­rer wur­den und sogar an ande­rer Stel­le Geld abzo­gen, aber sei­ner Fie­ber­haf­tig­keit schien eine sol­che Macht inne zu woh­nen, dass sie nie­mand zu bän­di­gen ver­moch­te. Von Film zu Film ver­lor er, der sowie­so schon dürr war, an Gewicht, stärk­te sich mit Alko­hol, brach zusam­men und gebär­de­te sich danach, als wäre er vom glei­chen Fie­ber befal­len, wie die Hau­de­gen sei­ner Fil­me, bis er zu einem bär­ti­gen Ske­lett abge­ma­gert war.“

Die zwei­jäh­ri­ge Rekon­va­les­zenz nach der Her­aus­brin­gung von Das Tal der Bie­nen nutz­te Vlá­čil zur Vor­be­rei­tung von Adel­heid (1969). Das Kam­mer­spiel über die wech­seln­den Macht­ver­hält­nis­se zwi­schen Tsche­chen und Deut­schen im Sude­ten­land nach Ende des Zwei­ten Welt­kriegs wur­de mit dem Ver­dacht auf­ge­nom­men, dass die dar­in auf­ge­wor­fe­nen Fra­gen miss­ver­ständ­lich beant­wor­tet wer­den könn­ten. Ent­spre­chend geriet Vlá­čil, wie vie­le ande­re, die für den Pra­ger Früh­ling in den Küns­ten stan­den, ins Visier der auf „Nor­ma­li­sie­rung“ bedach­ten Kul­tur­be­hör­den – er wur­de nicht ‚aus­ge­schal­tet‘ son­dern ‚kalt­ge­stellt‘, d.h. die Türen des staat­li­chen Film­stu­di­os blie­ben für ihn verschlossen.

Die Eis­zeit dau­er­te für Vlá­čil bis 1976. Nichts­des­to­trotz konn­te er ab 1972 ein hal­bes Dut­zend Kurz- und Kin­der­fil­me dre­hen, die für ihn selbst einen gro­ßen Stel­len­wert haben. In einem Inter­view erin­ner­te er sich: „Fran­tišek Uld­rich (sein Kame­ra­mann, mit dem er 15 Fil­me dreh­te) besaß eige­ne Tech­nik. Auch Zdeněk Lyš­ka (Kom­po­nist beim über­wie­gen­den Teil sei­ner lan­gen Fil­me) hat­te fast unbe­grenzt Zeit. Wir beka­men das Film­ma­te­ri­al und nie­mand über­prüf­te uns. Wir waren frei, fuh­ren mor­gens los und wuss­ten oft nicht, was wir dre­hen wür­den. Nach Jah­ren hat­te ich kei­ne rie­si­ge Crew hin­ter mir und ich stand nicht unter dem Druck einer gro­ßen Ver­ant­wor­tung. Beim Dre­hen von Kurz­fil­men ist man dem Geheim­nis künst­le­ri­schen Schaf­fens sehr nah.“

Mit Dým brambo­ro­vé natě/​Kartoffelfeuer (1976) kehr­te Vlá­čil nicht nur ins Bar­ran­dov Stu­dio zurück, son­dern dreh­te dort auch einen der unbe­küm­merts­ten und fri­sches­ten „Fil­me für Erwach­se­ne“ der soge­nann­ten grau­en Jah­re. Die freie Adap­ti­on von Bohu­mil Říhas Roman Dok­tor Melu­zin ist aus­drück­lich lei­se. Eine fil­mi­sche Pas­to­ra­le, die wie hin­ge­haucht erscheint und dem länd­li­chen Milieu, in das der welt­ge­wand­te Dok­tor Melu­zin (Rudolf Hrušíns­ký) nach einer erfolg­rei­chen Kar­rie­re in Paris zurück­kehrt, groß­zü­gig Gele­gen­heit gibt, ‚mit­zu­spie­len‘. Das erzäh­le­ri­sche Zen­trum des Films, die väter­li­che Bezie­hung des alten Arz­tes zu einer schwan­ge­ren jun­gen Frau, die von ihrer Mut­ter ver­sto­ßen wur­de, erscheint dabei wun­der­bar bei­läu­fig aus der nar­ra­ti­ven Grad­li­nig­keit gerückt.

Nach Hadí Jed/​Schlangengift (1981), einem ver­zwei­fel­ten (und geschei­ter­ten) Ver­such, dem eige­nen Alko­ho­lis­mus mit­tels eines Films bei­zu­kom­men, zog sich Vlá­čil gänz­lich aus der Welt des Kinos, wie auch dem gesell­schaft­li­chen Leben zurück. Die Zeit bis zu sei­nem Tod (1999) ver­leb­te er – unter­bro­chen nur von gele­gent­li­chen Gast­auf­trit­ten als Dar­stel­ler in Fil­men von ehe­ma­li­gen Kol­le­gen (u.a. Jaro­mil Jireš), mit­un­ter wider­wil­li­gen Betei­li­gun­gen an Por­trät­fil­men über sein Leben und sei­ne Arbeit oder Wie­der­auf­füh­run­gen sei­ner Wer­ke – als Ein­sied­ler in einer Hüt­te in Böhmen.

„Ich ver­traue der Mensch­heit“, erklär­te Vlá­čil in einem spä­ten Por­trät des tsche­chi­schen Fern­se­hens, „aber dem ein­zel­nen Men­schen ver­traue ich nur halb. Will sagen, jeder ein­zel­ne ist zur Hälf­te gut und zur Hälf­te böse. Aber auch wenn das Misch­ver­hält­nis oft zur schlech­ten Sei­te hin aus­schlägt, will ich nicht verzweifeln.“

P.S. Mar­ke­ta Laza­ro­va ist übri­gens der ein­zi­ge der 13 Spiel­fil­me des Regis­seurs, der in die deut­schen Kinos kam bzw. auf einem deut­schen DVD-Label erschien – das war 2016, also mit fünf­zig­jäh­ri­ger Ver­spä­tung. Anläss­lich des Kino­starts in jenem Jahr wur­de er in der Zeit­schrift Film Dienst gewür­digt als viel zu lan­ge „über­se­he­ne Per­le“, auch als „Mis­sing Link der Film­ge­schich­te“. In einer Umfra­ge unter tsche­chi­schen Fil­me­ma­chern und Kri­ti­kern wur­de Mar­ke­ta Laza­ro­va 1998 zum bes­ten tsche­chi­schen Film aller Zei­ten gewählt.

Ralph Eue

Pro­gramm Krokodil

4. Sep­tem­ber (Mitt­woch)

19.00 Uhr

POSÁD­KA NA ŠTÍ­TĔ / BERGSTATION

ČSR 1956, 11 min, OmeU

Regie: Fran­tišek Vláčil

Fil­mi­sches Kam­mer­spiel auf einer Berg­sta­ti­on, pro­du­ziert fürs tsche­chi­sche Armee­film­stu­dio. Raf­fi­nier­te Bild­kom­po­si­tio­nen mit den ‚Prot­ago­nis­ten‘ Licht und Wet­ter. Unbe­küm­mert schien Vlá­čil aus­tes­ten zu wol­len (und auch zu kön­nen), wo die Gren­zen für erzäh­le­ri­schen Eigen­sinn und gestal­te­ri­schen Ehr­geiz im gege­be­nen mili­tä­ri­schen Rah­men liegen.

HOLUB­ICE / WEIS­SE TAUBE

ČSR 1960, 65 min, OmeU

Regie: Fran­tišek Vláčil

Küh­nes und beein­dru­cken­des Spiel­film­de­büt in moder­nis­ti­schem Schwarz­weiß. Ein Jun­ge, der allein in einem Hoch­haus an den Roll­stuhl gefes­selt ist, fängt ver­se­hent­lich eine ver­irr­te Brief­tau­be ab. Zusam­men mit einem Künst­ler, der im glei­chen Hoch­haus sein Ate­lier hat, ver­sucht er den Vogel vor den anhal­ten­den Atta­cken einer gie­ri­gen schwar­zen Kat­ze – sie heißt Satan – zu schüt­zen. Es ist ein über­wie­gend wort­lo­ser Film, was der Regis­seur damit erklär­te, dass er sei­nem damals zehn­jäh­ri­gen Haupt­dar­stel­ler nicht zu viel Text zumu­ten woll­te. Den Regis­seur, der sich mit die­sem Film als eine Art Mas­ter­mind der gera­de auf­kom­men­den tsche­chi­schen Nová Vlna (Neue Wel­le) hät­te eta­blie­ren kön­nen, schien jedoch die Zuge­hö­rig­keit zu die­ser ‚Grup­pe‘ gar nicht zu interessieren.

21.00 Uhr Kurz­film­pro­gramm (Mitt­woch)

MODRÝ DEN / BLAU­ER TAG

ČSR 1953, 26 min, OF

Regie: Fran­tišek Vláčil

Fran­tišek Vlá­čil trat 1951 ins Armee­film­stu­dio ein und lie­fer­te bereits zwei Jah­re dar­auf ein frü­hes Meis­ter­stück: die­sen opu­len­ten Farb­film mit Düsen­jä­gern, die wie freie Sil­ber­pfei­le den blau­en Him­mel durch­kreu­zen und als vir­tuo­se Tän­zer ein sich selbst genü­gen­des Luft­bal­lett voll­füh­ren – und so den engen mili­tä­ri­schen Auf­trag in groß­ar­ti­ge Sinn­lo­sig­keit transzendieren.

SKLENĔ­NA OBLA­KA / GLASWOLKEN

ČSR 1958, 17 min, OF

Regie: Fran­tišek Vláčil

Ein Schar­nier­film, ent­stan­den in der Zeit, als Vlá­čil noch im Armee­film­stu­dio beschäf­tigt war und gedank­lich schon an sei­nem ers­ten Spiel­film arbei­te­te. SKLENĔ­NA OBLA­KA und HOLUB­ICE sind ver­bun­den durch das Motiv des ver­zau­ber­ten Kin­des sowie eine Film­spra­che, die über­mü­tig aus dem Fun­dus visu­el­ler Sti­li­sie­rungs­ver­fah­ren schöpft. Für die­sen Film erhielt Vlá­čil 1958 bei den Film­fest­spie­len von Vene­dig einen Son­der­preis in der Kate­go­rie Experimentallfilm.

PRO­NÁS­LE­DO­VÁ­NY / VERFOLGUNG

ČSR 1958, 34 min, OF

Regie: Fran­tišek Vláčil

Aben­teu­er und Gefahr in namen­lo­sem Grenz­ge­biet. In die­sem zwi­schen Landser‑, Flucht- und Ver­fol­gungs­film chan­gie­ren­den ‚Aus­flug Fran­tišek Vlá­čil ins Uni­ver­sum der klas­si­schen Gen­res, unter­nimmt der Regis­seur den ehr­gei­zi­gen Ver­such, gän­gi­ge Erzähl­mus­ter zu bedie­nen und sie im glei­chen Atem­zug mit einer über­spru­deln­den visu­el­len Fan­ta­sie zu ‚ver­gol­den‘. Es gibt Sequen­zen, die wir­ken als wären sie glei­cher­ma­ßen Vor­griff auf die Bild­wel­ten des Ita­lo­wes­tern, wie ein Rück­blick auf bild­mäch­ti­ge Idio­me des Stumm­films. Außer­dem bril­liert PRO­NÁS­LE­DO­VÁ­NY mit vir­tuo­ser Farb- und Zeitdramaturgie.

5. Sep­tem­ber (Don­ners­tag)

20.00 Uhr

MAR­KE­TA LAZAROVA

ČSR 1967, 160 min, OmdU

Regie: Fran­tišek Vláčil

MAR­KE­TA LAZA­RO­VA wur­de seit sei­ner Ent­ste­hung mal als Natur­wun­der, mal als heid­ni­sche Offen­ba­rung bezeich­net. Ein Film, der wirkt, als wür­de man von wild aus­schla­gen­den Visio­nen bedrängt, die jen­seits her­kömm­li­cher dra­ma­tur­gi­scher Struk­tu­ren zu einer losen Abfol­ge erzäh­le­ri­scher Blö­cke gefügt sind. Und man kommt sich vor, als wür­de der Blick wie durch ein Gemäl­de von Hie­ro­ny­mus Bosch wan­dern, wo sich in loser Zeit­ord­nung ein­zel­ne Hand­lungs­punk­te ver­dich­ten: aller­dings ohne Zen­tral­per­spek­ti­ve, ohne Psy­cho­lo­gie und ohne Linearität.

„MAR­KE­TA LAZA­RO­VA ent­stand nach dem gleich­na­mi­gen Roman des tsche­chi­schen Avant­gar­de­schrift­stel­lers Vla­dis­lav Van­cu­ra, der wäh­rend der Okku­pa­ti­on von den deut­schen Besat­zern hin­ge­rich­tet wor­den war. Buch wie Film sind eine Raub­rit­ter­ge­schich­te aus dem Mit­tel­al­ter, die Legen­de einer lei­den­schaft­li­chen Lie­be, die alle mit ihr in Berüh­rung kom­men­den Men­schen ver­wan­delt. (…) Die Dreh­ar­bei­ten dau­er­ten rund sie­ben Mona­te, insze­niert wur­de vor­wie­gend an authen­ti­schen Schau­plät­zen, in ver­fal­le­nen Fes­tun­gen und abge­le­ge­nen Wäl­dern, dar­un­ter in einem Moor­land, das zu betre­ten nicht unge­fähr­lich war. Die Beset­zungs­lis­te zähl­te rund 40 Haupt­rol­len und 200 Kom­par­sen, meist in wil­den, archai­schen Kos­tü­men. Hin­zu kamen alle­go­risch ein­ge­setz­te Tier­fi­gu­ren von Wöl­fen über Schlan­gen bis hin zu einem Schaf. Für die Musik nutz­te Vlá­cil sakra­le Gesän­ge. So ent­stand ein Film, der in sei­ner Sym­bio­se von Natu­ra­lis­mus und Über­hö­hung, Wild­heit und Poe­sie, Grau­sam­keit und Zärt­lich­keit sei­nes­glei­chen sucht.“ (Ralf Schenk, film​dienst​.de)

11. Sep­tem­ber (Mitt­woch)

20.00 Uhr

ADEL­HEID

ČSR 1969, 95 min, OmdU

Regie: Fran­tišek Vláčil

Vor Film­be­ginn liest Chris­toph Haa­cker (Arco Ver­lag) einen Aus­zug aus der Novel­le ADEL­HEID (1967) von Vla­di­mir Körner

Im wie­der­ge­won­ne­nen Sude­ten­land nach dem Zwei­ten Welt­krieg wird der ehe­ma­li­ge RAF-Flie­ger Vik­tor Cho­to­vický (Petr Čepek) mit der Inven­ta­ri­sie­rung und Ver­wal­tung eines gro­ßen Anwe­sens beauf­tragt, das frü­her einem Nazi-Funk­tio­när gehör­te. Die Toch­ter des ehe­ma­li­gen Besit­zers, Adel­heid (Emma Černá), wird Vik­tor als Haus­an­ge­stell­te zuge­teilt. Zwi­schen den bei­den ent­wi­ckelt sich eine selt­sam schwe­ben­de Lie­bes­be­zie­hung. ADEL­HEID ist ein unter­kühl­tes Melo­dram vor dem Hin­ter­grund der Beneš-Dekre­te, also der Ent­eig­nung und Ver­trei­bung der deut­schen Bevöl­ke­rung in der gera­de ent­ste­hen­den Tsche­cho­slo­wa­kei. Vlá­čils Film war der ers­te (und blieb auch danach einer der weni­gen), der sich an die­sem kom­ple­xen Kapi­tel der zen­tral­eu­ro­päi­schen Geschich­te unvor­ein­ge­nom­men abarbeitete.

12. Sep­tem­ber (Don­ners­tag)

19.00 Uhr

ĎÁBLO­VA PAST / DIE TEUFELSFALLE

CSR 1961, 83 min, DF, Vor­führ­for­mat: 35mm

Regie: Fran­tišek Vláčil

Mit ĎÁBLO­VA PAST ziel­te Fran­tišek Vlá­čil unver­hoh­len auf die Nach­bar­schaft mit Regis­seu­ren wie Carl Theo­dor Drey­er (VRE­DENS DAG/TAG DER RACHE), Aki­ra Kuro­sa­wa (KUMO­NO­SU-JŌ/­DAS SCHLOSS IM SPINN­WEB­WALD), Ing­mar Berg­man (JUNGFRUKÄLLAN/DIE JUNG­FRAU­EN­QUEL­LE) oder Orson Wel­les (OTHEL­LO) – und sah sich, wie die­se, glei­cher­ma­ßen als Tra­di­tio­na­list wie Avantgardist.

Eine klei­ne Sied­lung in Böh­men wird eines Tages von einem Pries­ter (Miros­lav Machácek) besucht, der dort in gehei­mer Mis­si­on unter­wegs ist. Er ist ein Mit­glied der Inqui­si­ti­on, das die Akti­vi­tä­ten eines ört­li­chen Mül­lers (Vítezslav Vejraž­ka) unter­su­chen soll. Der Mül­ler und sein Sohn (Vit Olmer) sind Nach­kom­men einer alten Fami­lie, deren Müh­le vor einem Jahr­hun­dert von schwe­di­schen Sol­da­ten abge­fa­ckelt, seit­her aber ‚abso­lut ori­gi­nal­ge­treu‘ wie­der auf­ge­baut wur­de – was für sich schon ver­däch­tig ist. Arg­wohn erregt dar­über hin­aus des Mül­lers Gabe, in ver­dorr­tem Land fri­sches Was­ser zu erah­nen und oben­drein noch vor­her­sa­gen zu kön­nen, dass eine auf unsi­che­rem Grund gebau­te Scheu­ne ein­stür­zen wird – was dem Inqui­si­tor als untrüg­li­cher Beleg erscheint, dass der ein­fa­che Mann mit dem Teu­fel im Bun­de ist.

Vlá­čils Film kommt als wüs­te Natur­ge­walt daher, wie aus urzeit­li­chem Mag­ma geformt, dar­in Ver­stand und Glau­be, Pro­fa­nes und Erha­be­nes, Indi­vi­du­um und Gesell­schaft unge­stüm aufeinandertreffen.